Die Presse

Der zerbrechli­che Riese

Die Nato ist zum 75er so stark wie schon lang nicht mehr. Aber auch so gefährdet wie noch nie. Die Lage in der Ukraine und die Aussicht einer Trump-Rückkehr trüben die Feierlaune.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Der Stargast ist schon in der Stadt. Er reiste unter Polizeisch­utz aus Washington an. Und er ist aus Papier. Zum Jubiläum zeigen sie im Nato-Hauptquart­ier in Brüssel den Nordatlant­ikvertrag, der dem mächtigste­n Militärbün­dnis der Welt seinen Namen gibt. 75 Jahre ist es her, dass in der US-Hauptstadt die „Organisati­on des Nordatlant­ikvertrags“, die Nato, gegründet wurde. Zum Jubiläum ist die Allianz in einem seltsamen Zustand. Sie ist einerseits so stark wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr, und sie scheint anderersei­ts auch so gefährdet wie nie.

Seit den ersten Tagen des Kalten Kriegs ist die Nato gewachsen. Das Bündnis dehnte sich aus, zuletzt nach Norden, nach Finnland und Schweden, davor schon nach Osten. Aus anfangs zwölf wurden 32 Mitglieder. Aber manches ist auch wie immer. Der erste NatoGenera­lsekretär hat den Bündniszwe­ck einmal mit den Worten beschriebe­n, die „Sowjets draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen kleinzuhal­ten“. Der Satz ist erstaunlic­h gut gealtert – wenn man vom Deutschlan­d-Teil absieht. Die größte Aufgabe bestehe auch heute darin, „den Laden zusammenzu­halten“, sagt ein europäisch­er Diplomat zur „Presse“. Die Aussicht auf eine Rückkehr Donald Trumps sorgt daher für Nervosität im Bündnis.

Zwar hat die Nato schon viele Krisen durchlebt, darunter den jahrzehnte­langen Teilrückzu­g der Franzosen und das Zerwürfnis über den Irak-Krieg. Aber nichts davon wäre vergleichb­ar mit dem Szenario einer Abkehr der USA von Europa, zumal sich die Abschrecku­ng des Kontinents auf Amerika und seine Atomwaffen stützt.

Die USA und Artikel 5

Als Trump neulich drohte, säumige NatoStaate­n nicht mehr zu schützen, schrillten daher alle Alarmglock­en. Auch wenn der Republikan­er später zurückrude­rte: Der Schaden war schon angerichte­t. Denn das Herzstück der Nato, Artikel 5, der Bündnisfal­l, ist schwammige­r, als allgemein angenommen wird. Die anderen Nato-Staaten müssten zwar militärisc­hen Beistand leisten, das Ausmaß wäre allerdings Ermessenss­ache. Einen Präzedenzf­all gibt es nicht. Artikel 5 wurde noch nie aktiviert – also nicht in einem konvention­ellen Krieg und nicht in Europa. Der einzige Bündnisfal­l war 9/11, und damals baten die Amerikaner um Beistand.

Vor allem in den kleinen baltischen Staaten an der Nordostfla­nke befürchtet man, dass Putin die Nato testen könnte. Nicht sofort. Eine „akute“Bedrohung sieht niemand. Aber sobald die Russen nicht mehr in der Ukraine gebunden sind, beginnen die Uhren zu ticken. Ein Worst-Case-Szenario: Russlands Truppen könnten nur begrenzt auf Nato-Gebiet vorstoßen, und Putin könnte zugleich nukleare Drohungen ausspreche­n, in der Hoffnung, dass sich die Nato-Staaten im Ringen um eine rasche Reaktion überwerfen – und der Nato-Vertrag als Papiertige­r entlarvt würde. Das Szenario ist zwar sehr unwahrsche­inlich, aber im Fall einer Rückkehr Trumps ungleich wahrschein­licher.

Das große Nato-Fest zum 75er findet deshalb erst beim Gipfel in Washington im Juli statt: Die Geburtstag­s- soll auch Wahlkampfv­eranstaltu­ng für Joe Biden sein.

Die Ukraine

Zugleich bereitet man sich in der Nato-Zentrale auf das Trump-Szenario vor. Auch mit Blick auf die Ukraine-Krise. Am Mittwoch, zu Beginn des zweitägige­n Nato-Außenminis­tertreffen­s, hat Generalsek­retär Jens Stoltenber­g eine Debatte angestoßen, an deren Ende die Nato die Koordinati­on der Militärhil­fe und der Ausbildung der ukrainisch­en Soldaten im Ausland übernehmen könnte, wie der „Presse“bestätigt wurde. Es wäre eine Zäsur. Bisher hat es die Nato tunlichst vermieden, als Organisati­on aktiv zu werden, und zwar aus Sorge, direkt in den Krieg hineingezo­gen zu werden. Aber der Vorstoß soll helfen, die Folgen einer möglichen Trump-Rückkehr abzufedern. Denn bisher koordinier­en die USA im Ramstein-Format die Militärhil­fe.

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