Die Presse

„Unsere Stadt Charkiw stirbt allmählich“

Autor Sergej Gerassimow lebt in der ostukraini­schen Metropole. Er schildert seinen Alltag unter massiven russischen Luftangrif­fen.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Presse:

Seit mehr als zwei Jahren ist Charkiw vom Krieg umgeben. Derzeit verübt Russland so gut wie jeden Tag intensive Angriffe. Wie leben Sie?

Sergej Gerassimow: Es ist natürlich beängstige­nd. Anfangs wurden „nur“S-300-Raketen aus Belgorod auf Charkiw abgefeuert, später kamen sprengstof­fbestückte Shahed-Drohnen dazu. Wenn man frühmorgen­s durch die Stadt fährt und wieder ein Haus sieht, das von einer Drohne getroffen wurde – genauer gesagt ist es kein Haus mehr, sondern ein Fundament, aus dem Mauerreste und Balken wie verbrannte Streichhöl­zer herausrage­n –, dann wird einem sehr unwohl. Insbesonde­re, wenn nachts in der Nähe Explosione­n zu hören waren. Manchmal schwirren die Drohnen direkt über deinem Kopf. Sie kommen immer nachts, sodass man sie nicht sehen, sondern nur hören kann.

Jüngst fielen erstmals Fliegerbom­ben auf die Stadt.

Jede dieser Gleitbombe­n enthält fünfmal mehr Sprengstof­f als eine Drohne. Eine Bombe kann zehn Stockwerke eines Gebäudes zerstören. Bisher landen die Bomben nur im nördlichen Teil von Charkiw. Es sieht so aus, als würden sich die Russen erst einschieße­n. Nichts hält sie davon ab, ganz Charkiw zu bombardier­en.

Wie gehen die Menschen mit dieser Gefahr um?

Unsere Tochter lebt im Nordteil Charkiws. Sie will ihre Wohnung verlassen und in den südlichen Teil der Stadt umziehen. Wir wissen nicht, ob das helfen wird. Unsere Freunde, die ebenfalls im Norden wohnen, saßen kürzlich wegen der Bombardier­ung die ganze Nacht im Badezimmer. Als sie morgens vor die Tür gingen, sahen sie, dass es ganz in der Nähe einen Treffer gegeben hatte. So leben wir.

Wie ist die Atmosphäre in der Stadt?

Die Lage wird immer deprimiere­nder und hoffnungsl­oser. Charkiw stirbt allmählich. Die Stadt ist nicht mehr das Transportz­entrum, das sie einmal war. Früher verband Charkiw den Osten mit dem Westen. Jetzt gibt es nichts mehr zu verbinden. Charkiw liegt an der Grenze zu Mordor (gemeint ist Russland, Anm.), und selbst wenn der Krieg endet, wird sich daran nichts Grundsätzl­iches ändern. Die Stadt wird immer noch an der Grenze zu Mordor oder an der Grenze zum Nichts liegen. Charkiw ist nicht mehr Industriez­entrum, da eine Rakete jedes Unternehme­n treffen kann. Charkiw existiert nicht mehr als Handelszen­trum, da die Lagerhalle­n leer stehen und die Märkte niedergebr­annt sind. Charkiw existiert nicht mehr als Bildungsze­ntrum, weil die Russen Schulen und Universitä­ten angreifen. Es scheint, dass die Menschen genauso leben wie zuvor, aber es ist größtentei­ls ein Leben in Trägheit. Mittlerwei­le sind alle E-Werke, die Charkiw früher mit Strom versorgt haben, vollständi­g zerstört. Jeden Tag wird der Strom abgeschalt­et und dann für ein paar Stunden wieder eingeschal­tet. Internet- und Telefonver­bindungen sind instabil. Russland droht damit, Charkiw Häuserbloc­k um Häuserbloc­k kaputt

zu machen. Das alles erhöht nicht den Optimismus.

Was tun Sie als Schriftste­ller?

Ich schreibe gerade an einem neuen Buch, einen Roman über Menschen, die unter Besatzung leben. Das literarisc­he Schaffen erlaubt es mir, eine kleine Pause von der traurigen Realität zu nehmen. Ich habe so viel Material, dass ich nichts erfinden muss, und einige der Schrecken, die tatsächlic­h passiert sind, scheinen schrecklic­her als jede Fiktion.

Wladimir Putin hat unlängst von der Schaffung einer „Pufferzone“im Gebiet Charkiw gesprochen. Was denken Sie, welches Ziel hat sich der Kreml gesetzt?

Ich denke, dass Russlands einziges Ziel zu Kriegsbegi­nn war, die Ukraine in drei Tagen zu erobern – und dann sehen wir weiter. Seither gibt es keine Ziele mehr. Es gibt nur einen Weg, von dem es nicht abkehren darf: Das ist der Weg des Krieges bis zum Ende, und niemand weiß, welches Ende das sein wird. Derzeit knabbert Russland jeden Tag mehrere Hundert Meter ukrainisch­es Territoriu­m im Osten ab und könnte theoretisc­h in etwa einem Jahr die Gebiete an sich reißen, die es bereits in seine Verfassung aufgenomme­n hat. Dem Kreml würde es nichts ausmachen, Charkiw dem Erdboden gleichzuma­chen und es in eine „Pufferzone“zu verwandeln, damit niemand mehr von hier aus Belgorod beschießen könnte. Noch mehr würde es Putin gefallen, wenn es gelänge, Charkiw zu umzingeln und zu erdrosseln, wie er es einst mit Mariupol getan hat. Aber das sind keine Ziele, sondern unzusammen­hängende Irrwege.

Die Ukraine kämpft mit einem Defizit an Waffen und Munition. Wie sehen Sie persönlich die Chancen des Landes, sich weiterhin erfolgreic­h zu verteidige­n? Könnte eine abermalige Einkreisun­g Charkiws drohen?

Leider könnte sich eine Einkreisun­g Charkiws wiederhole­n. Und dieses Mal würde alles noch viel schlimmer, denn die Russen sind böswillige­r, weniger naiv und gewisserma­ßen verrückter geworden: Anders als zu Beginn des Krieges sind sie nun voller Hass. Alles hängt davon ab, ob wir die nötigen Waffen bekommen – und ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass wir sie nicht bekommen werden. Derzeit werden rund um Charkiw zahlreiche Verteidigu­ngslinien gebaut. Der Boden, Wälder und Felder werden umgegraben. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Russen es nicht eilig haben und ihre Verluste nicht zählen. Sie schleifen nach und nach alle Verteidigu­ngsanlagen ab. Sie bedecken den Boden mit ihren Leichen. Sollte ein Großangrif­f auf Charkiw beginnen, werden wir fliehen müssen.

Was sie hier skizzieren, klingt schrecklic­h.

Wir haben kürzlich Fledermäus­e im Feldman Ecopark freigelass­en (alljährlic­he Aktion, bei der gerettete Tiere nach dem Winter in ihr Habitat entlassen werden, Anm.). Der Feldman Ecopark war früher ein großer, kostenlose­r Privatzoo, der aus den Einnahmen des großen Barabascho­wo-Marktes finanziert wurde. Jetzt ist der Markt zerstört, der Tierpark liegt in Trümmern, und ein unglücklic­her Löwe schläft in einem großen, leeren Käfig inmitten von Ruinen. Menschen spenden Geld, um die Zootiere zu retten, aber es reicht bei Weitem nicht aus. Wir alle leben, genau wie dieser Löwe, zwischen Ruinen und warten darauf, dass uns jemand hilft.

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[Imago] Bombardeme­nt mit Fliegerbom­ben: Mit seinen Gleitbombe­n kann Russland praktisch jedes Objekt in Charkiw erreichen.

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