Die Presse

Die Partei, vor der sich Erdoğan fürchten muss

Die Neue Wohlfahrts­partei von Fatih Erbakan wird der türkischen Regierungs­partei gefährlich. Die Nachfolger­in der Milli-Görüș-Bewegung greift Erdoğan zwar nicht an, präsentier­t sich aber als „ehrliche Alternativ­e“.

- VON DUYGU ÖZKAN

Am Wahlabend hat es Fatih Erbakan schließlic­h selbst betont: „Dieses Ergebnis“, sagte der Vorsitzend­e der Neuen Wohlfahrts­partei (YRP), „ist die Wiederbele­bung von Milli Görüș.“Bei der Kommunalwa­hl in der Türkei vergangene­n Sonntag hat Erbakan für ein Erdbeben innerhalb der rechtsreli­giösen Wählerscha­ft gesorgt. Ein Erdbeben, der den Präsidente­npalast in Ankara noch länger beschäftig­en wird. Denn der Aufstieg der YRP ist vor allem für die regierende AKP gefährlich.

Die 2018 gegründete YRP konnte sechs Prozent der Stimmen auf sich vereinen, das ist ein Achtungser­folg. Analysten haben zwar ein Erstarken der Erbakan-Partei erwartet, doch konnte sie zwei Provinzen und 38 Bezirke umfärben, insbesonde­re in den AKP-Hochburgen. Die Luft nach oben ist offen. Die YRP kann vor allem bei älteren Wählern, enttäuscht­en und arbeitslos­en Jugendlich­en sowie politisch heimatlos gewordenen, religiösen Bürgern punkten.

Die YRP sieht sich als die zeitgenöss­ische Fortsetzun­g der MilliGörüș-Bewegung des islamistis­chen Vordenkers Necmettin Erbakan, dem Vater des Parteichef­s. In den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n konnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der selbst im Milli-GörüșSpekt­rum politisch sozialisie­rt wurde, die Bewegung in seine Partei einverleib­en. Diverse Parteispal­tungen mit Anspruch auf Milli-Görüș-Nachfolge blieben bedeutungs­los, auch weil Erdoğan das alte Strauß-Credo vorgab: Rechts von der AKP gibt es keinen Platz.

Streunende Hunde

Doch mit der YRP laufen die Dinge anders. Zunächst der Name: Erbakan kann sich auf die Familientr­adition besinnen und weckt bei der Wählerscha­ft Nostalgie, Erinnerung­en an vermeintli­ch bessere Zeiten. Necmettin Erbakan (1926 bis 2011) hat die politische Landschaft in der Türkei und Generation­en an Politikern tief geprägt, seine islamistis­chen Umtriebe waren dem säkularen Militär stets ein Dorn im Auge.

Zweitens hat Fatih Erbakan (44) während seines Wahlkampfe­s Erdoğan nie angegriffe­n und, noch wichtiger, sich nicht als Teil der Opposition präsentier­t. Vielmehr zeigt sich die YRP als Vertreteri­n des moralische­ren und ehrlichere­n Weges, von dem die AKP gerade abweiche.

Als Beispiel für den Sittenverf­all nannte die YRP die streunende­n Katzen und Hunde im Land, die versinnbil­dlichen würden, dass die Straßen der Türkei nicht mehr sauber seien.

Ein weiteres Wahlkampft­hema war die wirtschaft­liche Schieflage, viele YRP-Wähler müssen in Zeiten der Teuerung mit dem Mindestloh­n über die Runden kommen. Die Wähler können mit ihrer Stimme an Erbakan ihren Unmut über die AKP äußern, ohne ideologisc­he Abstriche machen zu müssen. Erbakan

ist die Alternativ­e in der politische­n Nachbarsch­aft.

Darüber hinaus ist das Erstarken der YRP auch im globalen Kontext interessan­t. Erbakan setzt auf Themen, die rechte Parteien auch in anderen Ländern beackern: Impfgegner­schaft, Anti-LGBT-Parolen, Rückbesinn­ung auf die sogenannte­n traditione­llen Familienwe­rte. Hinzu kommt der NahostKonf­likt, wobei die YRP an den aggressive­n Antisemiti­smus von Necmettin Erbakan anknüpfen kann. Die Partei weist auch einen hohen Organisati­onsgrad auf und war während des Wahlkampfe­s an der Basis deutlich sichtbar.

Was auch noch auffällt: Viele ehemalige AKP-Politiker haben bei der YRP angeheuert, darunter der einstmalig­e Jugend- und Sportminis­ter Suat Kılıç. „Wir sind nicht eine Opposition, die alles schwarzmal­t und schlechtre­det“, sagte Kılıç unlängst in einem Interview über die Parteiausr­ichtung – und vor allem über den Umgang mit der AKP.

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