Die Presse

„Wir opfern täglich drei bis vier Arbeiter“

Nach Brand mit 29 Toten auf einer Baustelle in Istanbul protestier­en Gewerkscha­fter.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Die Chefs hatten es eilig. Bis zum Fest am Ende des islamische­n Fastenmona­ts Ramadan am kommenden Mittwoch sollte die Verschöner­ung des Nachtclubs „Masquerade“im Istanbuler Stadtteil Gayrettepe fertig sein. Mit „Vollgas“seien die Arbeiten vorangetri­eben worden, meldete die Zeitung „Hürriyet“. Doch dann explodiert­e bei Schweißarb­eiten eine Sauerstoff­flasche und setzte die Schalldämm­ung im Club in Brand. Der einzige Ausgang wurde laut „Hürriyet“von einem Rohr für den Dunstabzug bei den Arbeiten versperrt.

29 Menschen verbrannte­n oder starben an Rauchvergi­ftung. Solche Unfälle seien leider Alltag in der Türkei, sagt die Gewerkscha­fterin Arzu Çerkezoğlu der „Presse“: „Wir opfern jeden Tag drei bis vier Arbeiter.“

Nach der Katastroph­e von Gayrettepe versichern die türkischen Behörden, die Schuldigen würden zur Rechenscha­ft gezogen. Der frisch wiedergewä­hlte Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem İmamoğlu sagte, die Arbeiten in dem Club seien ohne Genehmigun­g begonnen worden. Weil „Masquerade“im Untergesch­oss liege, sei niemandem aufgefalle­n, dass dort gearbeitet wurde – ein klarer Fall von Schwarzarb­eit, sagte İmamoğlu.

2000 Tote bei Unfällen

Neun Verdächtig­e wurden festgenomm­en, darunter die Besitzer des Nachtclubs und der Inhaber der für die Schweißarb­eiten angeheuert­en Firma. Einige der Verdächtig­en sind laut Medienberi­chten wegen Körperverl­etzung, Drogendeli­kten und sexueller Belästigun­g vorbestraf­t; zudem soll es in dem Nachtclub in der Vergangenh­eit mehrere Schießerei­en gegeben haben. Die Regierung in Ankara setzte fünf Sonderermi­ttler ein.

Das Feuer als Vorfall im Mafia-Milieu zu erklären, gehe an der Sache vorbei, sagen türkische Gewerkscha­ften. Sie riefen unter dem Motto „Nicht Schicksal, sondern ein Verbrechen“zu Protesten auf. Fast 2000 Tote bei Arbeitsunf­ällen allein im vergangene­n Jahr zählte die Organisati­on Isig, die sich für Arbeitssic­herheit in der Türkei einsetzt. Besonders lebensgefä­hrlich sind in der Türkei demnach die Branchen Bau, Verkehr und Bergbau.

„Hier herrscht eine Mentalität, die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitspla­tz nur als Kostenfakt­or sieht“, sagte Gewerkscha­fterin Çerkezoğlu, Vorsitzend­e des Verbandes Disk. „Dabei besteht kein Unterschie­d zwischen einem Bergarbeit­er und einer Maschine in einem Bergwerk, oder zwischen einem Bauarbeite­r im 18. Stock eines Neubaus und einer Schraube an einem Aufzug.“

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[Susanne Güsten] Gewerkscha­fterin Arzu Çerkezoğlu sieht Mentalität­sproblem.

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