Russland bereitet Sommeroffensive vor
Russische Truppenbewegungen und das Aufstellen neuer Kräfte deuten auf etwas Großes hin. Genannt wird Charkiw als Ziel, aber auch Odessa. Die Ukrainer sind erheblich geschwächt, haben aber auch Gründe für Optimismus.
Kiew/Moskau. Vor Tagen startete in Russland die neue Einberufungswelle im Frühjahr. Für diese wurde die Altersobergrenze um drei Jahre angehoben, nun trifft es Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren. Etwa 150.000 Wehrpflichtige werden also ein Jahr lang in den Streitkräften dienen, wie der Kreml angibt. Sie sollen weder in die „neuen Regionen Russlands“, wie man die annektierten ukrainischen Gebiete nennt, noch zur „Militärspezialoperation“in der Ukraine abkommandiert werden.
Klar ist, dass sie so stationiert werden, dass sie Kräfte für die Ukraine freimachen. Und Moskau mobilisiert weiter Reserven. London sprach jüngst von 30.000 Mann im Monat, das deckt sich mit ukrainischen Zahlen. Russland könne „höchstwahrscheinlich weiter Verluste hinnehmen und Angriffe fortsetzen“, heißt es. An eine Zermürbung der Mannschaftsstärke ist noch lang nicht zu denken. Dabei sterben überproportional viele Russen oder fallen verletzt langfristig aus. Allein in der Schlacht um die Stadt Awdijiwka bei Donezk, die Moskau Mitte Februar eroberte, fielen wohl mehr Russen als im sowjetisch-afghanischen Krieg 1979– 1989, das waren etwa 25.000. Die Kämpfe um Awdijiwka dauerten fast exakt zwei Jahre.
Generell gewann das russische Heer in seiner Winteroffensive unter hohen Verlusten kaum Terrain, eine Fläche von wenig mehr als jener von Wien. Aber nun ist von einer neuen Großoffensive Russlands im Sommer die Rede: Es gibt auffällige Truppenbewegungen, vermutlich Vorbereitungen für einen Stoß auf Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine im Nordosten.
Putin strotzt äußerlich vor Zuversicht und lächelt über Meldungen vom Munitionsmangel der Ukraine. Nach zwei Jahren Krieg wähnt er sich im Vorteil und könnte die Entscheidung wollen. Schließlich sind aus Sowjetbeständen noch Abertausende Panzer und Geschütze zur Restauration vorhanden, es gibt Menschenmaterial, Munition und Drohnen genug. Und der US-Kongress verschleppt aus innenpolitischen Gründen weiter das Hilfspaket für die Ukraine im Wert von 60 Milliarden Dollar.
Was immer da kommt …
„Die Lage ist besser als vor zwei oder drei Monaten“, sagte Wolodymyr Selenskij jüngst in einem Interview im US-Sender CBS. Das ukrainische Militär, so der Präsident, habe standgehalten, aber Ende Mai oder im Juni sei die Großoffensive zu erwarten. Deshalb brauche er wesentlich mehr Hilfe, vor allem aus den USA, vor allem Flugabwehrwaffen und Artillerie. Selenskij warnte auch, dass die Russen europäische Staaten angreifen könnten, etwa im Baltikum.
„Er dramatisiert ein bisschen, um die Hilfe zu beschleunigen“, urteilt der deutsche Ex-General Klaus Wittmann. Tatsächlich ist die Lage mittelfristig nicht so schlecht, bedenkt man die jüngsten Waffenlieferungen und Zusagen westlicher Länder bis nach Australien. So hat Tschechien 1,5 Millionen Artilleriegranaten gesichert, die Hälfte müsste bereits unterwegs sein, der Rest und noch mehr dürften sich bis Juni ausgehen, insgesamt zwei Millionen Schuss. Schätzungen zufolge sind drei Viertel der bis Mitte 2023 gelieferten westlichen Großwaffen noch vorhanden, seit Jahresbeginn wurden große Mengen zugesagt und zum Teil schon überstellt, vom Minenräumer bis zur Panzerhaubitze. In wenigen Monaten dürften auch die ersten von ein paar Dutzend gebrauchten Kampfjets des US-Modells F-16 eintreffen.
Und die Ukrainer rekrutieren und mobilisieren ebenfalls, jedoch nicht 500.000 Soldaten, wie man es anfangs geplant hat, sondern „erheblich reduziert“, wie der im vergangenen Monat ernannte neue Oberbefehlshaber, General Oleksandr Syrskyi, jüngst versichert hat.
… wird kein Spaziergang
Trotzdem: Ohne USA könnte das Material langfristig knapp werden. Die EU und ihre Partner müssten da schon den Umfang drastisch erhöhen. Eine neue Großoffensive wird allerdings sicher kein Spaziergang. Augenscheinlich wurde dies kürzlich wieder, als 36 Kampfpanzer und zwölf Schützenpanzer bei Tonenke nahe Awdijiwka angriffen. Es war der größte Angriff dieser Art seit Oktober, und er scheiterte, mindestens 20 Fahrzeuge blieben liegen.
Es handelte sich also um eine Attacke in Bataillonsgröße; nach Maßstäben des Kalten Kriegs war das eigentlich eine kleine Aktion. Egal, denn das Scheitern wird im Westen vielfach als positives Signal für die Abwehrkraft der Ukrainer in größerem Rahmen gesehen. Zudem
sei eine Offensive an multiplen Frontabschnitten kaum vorstellbar. Die Russen sind demnach nur zu einer einzelnen großen Operation mit einer Hauptstoßrichtung fähig, glaubt man bei der Denkfabrik ISW in Washington.
Die Abwehrlinien wachsen
In dem Zusammenhang wird aber auch über einen Stoß auf das südukrainische Odessa nahe der Grenze zu Rumänien orakelt. Wie das gehen soll, wo doch der Dnipro und mehrere Flüsse westlich davon überwunden werden müssten und die Ukraine die russische Flotte aus dem westlichen Schwarzen Meer verbannt hat, ist kaum erklärlich.
Jedenfalls baut die Ukraine viele neue Verteidigungslinien, was durchaus schon im Vorjahr hätte geschehen sollen, analog zum gewaltigen Stellungsbau der Russen. Schützengräben, Bunker, Panzersperren, Minenfelder wachsen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Front. Ob die Offensive kommt oder nicht, diese Kriegsrelikte werden von Dauer sein.