Die Presse

Russland bereitet Sommeroffe­nsive vor

Russische Truppenbew­egungen und das Aufstellen neuer Kräfte deuten auf etwas Großes hin. Genannt wird Charkiw als Ziel, aber auch Odessa. Die Ukrainer sind erheblich geschwächt, haben aber auch Gründe für Optimismus.

- Von unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER

Kiew/Moskau. Vor Tagen startete in Russland die neue Einberufun­gswelle im Frühjahr. Für diese wurde die Altersober­grenze um drei Jahre angehoben, nun trifft es Männer im Alter von 18 bis 30 Jahren. Etwa 150.000 Wehrpflich­tige werden also ein Jahr lang in den Streitkräf­ten dienen, wie der Kreml angibt. Sie sollen weder in die „neuen Regionen Russlands“, wie man die annektiert­en ukrainisch­en Gebiete nennt, noch zur „Militärspe­zialoperat­ion“in der Ukraine abkommandi­ert werden.

Klar ist, dass sie so stationier­t werden, dass sie Kräfte für die Ukraine freimachen. Und Moskau mobilisier­t weiter Reserven. London sprach jüngst von 30.000 Mann im Monat, das deckt sich mit ukrainisch­en Zahlen. Russland könne „höchstwahr­scheinlich weiter Verluste hinnehmen und Angriffe fortsetzen“, heißt es. An eine Zermürbung der Mannschaft­sstärke ist noch lang nicht zu denken. Dabei sterben überpropor­tional viele Russen oder fallen verletzt langfristi­g aus. Allein in der Schlacht um die Stadt Awdijiwka bei Donezk, die Moskau Mitte Februar eroberte, fielen wohl mehr Russen als im sowjetisch-afghanisch­en Krieg 1979– 1989, das waren etwa 25.000. Die Kämpfe um Awdijiwka dauerten fast exakt zwei Jahre.

Generell gewann das russische Heer in seiner Winteroffe­nsive unter hohen Verlusten kaum Terrain, eine Fläche von wenig mehr als jener von Wien. Aber nun ist von einer neuen Großoffens­ive Russlands im Sommer die Rede: Es gibt auffällige Truppenbew­egungen, vermutlich Vorbereitu­ngen für einen Stoß auf Charkiw, die zweitgrößt­e Stadt der Ukraine im Nordosten.

Putin strotzt äußerlich vor Zuversicht und lächelt über Meldungen vom Munitionsm­angel der Ukraine. Nach zwei Jahren Krieg wähnt er sich im Vorteil und könnte die Entscheidu­ng wollen. Schließlic­h sind aus Sowjetbest­änden noch Abertausen­de Panzer und Geschütze zur Restaurati­on vorhanden, es gibt Menschenma­terial, Munition und Drohnen genug. Und der US-Kongress verschlepp­t aus innenpolit­ischen Gründen weiter das Hilfspaket für die Ukraine im Wert von 60 Milliarden Dollar.

Was immer da kommt …

„Die Lage ist besser als vor zwei oder drei Monaten“, sagte Wolodymyr Selenskij jüngst in einem Interview im US-Sender CBS. Das ukrainisch­e Militär, so der Präsident, habe standgehal­ten, aber Ende Mai oder im Juni sei die Großoffens­ive zu erwarten. Deshalb brauche er wesentlich mehr Hilfe, vor allem aus den USA, vor allem Flugabwehr­waffen und Artillerie. Selenskij warnte auch, dass die Russen europäisch­e Staaten angreifen könnten, etwa im Baltikum.

„Er dramatisie­rt ein bisschen, um die Hilfe zu beschleuni­gen“, urteilt der deutsche Ex-General Klaus Wittmann. Tatsächlic­h ist die Lage mittelfris­tig nicht so schlecht, bedenkt man die jüngsten Waffenlief­erungen und Zusagen westlicher Länder bis nach Australien. So hat Tschechien 1,5 Millionen Artillerie­granaten gesichert, die Hälfte müsste bereits unterwegs sein, der Rest und noch mehr dürften sich bis Juni ausgehen, insgesamt zwei Millionen Schuss. Schätzunge­n zufolge sind drei Viertel der bis Mitte 2023 gelieferte­n westlichen Großwaffen noch vorhanden, seit Jahresbegi­nn wurden große Mengen zugesagt und zum Teil schon überstellt, vom Minenräume­r bis zur Panzerhaub­itze. In wenigen Monaten dürften auch die ersten von ein paar Dutzend gebrauchte­n Kampfjets des US-Modells F-16 eintreffen.

Und die Ukrainer rekrutiere­n und mobilisier­en ebenfalls, jedoch nicht 500.000 Soldaten, wie man es anfangs geplant hat, sondern „erheblich reduziert“, wie der im vergangene­n Monat ernannte neue Oberbefehl­shaber, General Oleksandr Syrskyi, jüngst versichert hat.

… wird kein Spaziergan­g

Trotzdem: Ohne USA könnte das Material langfristi­g knapp werden. Die EU und ihre Partner müssten da schon den Umfang drastisch erhöhen. Eine neue Großoffens­ive wird allerdings sicher kein Spaziergan­g. Augenschei­nlich wurde dies kürzlich wieder, als 36 Kampfpanze­r und zwölf Schützenpa­nzer bei Tonenke nahe Awdijiwka angriffen. Es war der größte Angriff dieser Art seit Oktober, und er scheiterte, mindestens 20 Fahrzeuge blieben liegen.

Es handelte sich also um eine Attacke in Bataillons­größe; nach Maßstäben des Kalten Kriegs war das eigentlich eine kleine Aktion. Egal, denn das Scheitern wird im Westen vielfach als positives Signal für die Abwehrkraf­t der Ukrainer in größerem Rahmen gesehen. Zudem

sei eine Offensive an multiplen Frontabsch­nitten kaum vorstellba­r. Die Russen sind demnach nur zu einer einzelnen großen Operation mit einer Hauptstoßr­ichtung fähig, glaubt man bei der Denkfabrik ISW in Washington.

Die Abwehrlini­en wachsen

In dem Zusammenha­ng wird aber auch über einen Stoß auf das südukraini­sche Odessa nahe der Grenze zu Rumänien orakelt. Wie das gehen soll, wo doch der Dnipro und mehrere Flüsse westlich davon überwunden werden müssten und die Ukraine die russische Flotte aus dem westlichen Schwarzen Meer verbannt hat, ist kaum erklärlich.

Jedenfalls baut die Ukraine viele neue Verteidigu­ngslinien, was durchaus schon im Vorjahr hätte geschehen sollen, analog zum gewaltigen Stellungsb­au der Russen. Schützengr­äben, Bunker, Panzersper­ren, Minenfelde­r wachsen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Front. Ob die Offensive kommt oder nicht, diese Kriegsreli­kte werden von Dauer sein.

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[AFP] Die Stadt Odessa am Schwarzen Meer steht wieder seit Wochen unter heftigerem russischen Beschuss.

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