Die Presse

Die Argumente für den Staat Israel bleiben gültig

Gastkommen­tar. Das Ideal, allen verfolgten Juden einen Zufluchtso­rt zu schaffen, bleibt die stärkste Rechtferti­gung für die Existenz Israels.

- VON IAN BURUMA

Der 2010 viel zu früh verstorben­e britische Historiker Tony Judt argumentie­rte 2009, dass Israels Identität als einzigarti­ger jüdischer Staat „schlecht für Israel“und „schlecht für Juden anderswo sei, die mit seinen Handlungen gleichgese­tzt werden“.

Obwohl seine Äußerungen damals eine Kontrovers­e ausgelöst haben, scheint die weltweite Reaktion auf den andauernde­n Krieg zwischen der Hamas und Israel im Gazastreif­en ihm recht zu geben, da sich Juden auf der ganzen Welt für Israels angebliche­n „Völkermord“am palästinen­sischen Volk verantwort­lich gemacht sehen.

In den vergangene­n sechs Monaten kam es nach den Berichten über die Gräueltate­n im Gazastreif­en vermehrt zu antisemiti­schen Vorfällen unter anderem in Städten wie London, New York und Wien. Synagogen wurden mit Hassparole­n beschmiert, jüdische Friedhöfe wurden geschändet, und als Juden identifizi­erte Personen wurden in der Öffentlich­keit belästigt.

Es ist richtig, dass sich viele Juden aktiv an Antikriegs­demonstrat­ionen beteiligen, die ein freies Palästina „vom Fluss bis zum Meer“fordern. Und es ist falsch, jegliche Kritik an der rechtsextr­emen Regierung des israelisch­en Premiermin­isters Benjamin Netanjahu mit Antisemiti­smus gleichzuse­tzen.

Berufung auf den Holocaust

Richtig ist aber auch, dass manche das Vorgehen Israels in Gaza mit einem Eifer als Völkermord bezeichnen, der bei internatio­nalen Reaktionen auf Massengewa­lt in Ländern wie beispielsw­eise Syrien, dem Sudan oder auch der Ukraine nicht zu beobachten ist. Diese unverhältn­ismäßige Aufmerksam­keit deutet darauf hin, dass die Kritik am israelisch­en Vorgehen eine Erleichter­ung für diejenigen sein könnte, die es leid sind, sich wegen des Holocaust schuldig zu fühlen.

Die israelisch­en Regierunge­n tragen einen Teil der Verantwort­ung

für diese Ressentime­nts – nicht nur wegen der schrecklic­hen Behandlung der Palästinen­ser im Lauf der Jahre, sondern auch, weil sich israelisch­e Beamte häufig auf den Holocaust berufen, um die grausame Politik des Landes zu rechtferti­gen.

Seit dem Prozess gegen den NSVerbrech­er Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem beanspruch­t Israel, für alle Opfer des Holocaust zu sprechen. Hätte es Israel in den 1930erJahr­en gegeben, so lautet die Argumentat­ion, wären sechs Millionen Juden vor dem Inferno der Nazis gerettet worden.

Wohl aus diesem Grund wurde der israelisch­e Präsident Isaac Herzog zur Eröffnung des neuen Holocaust-Museums in Amsterdam am 10. März eingeladen.

Als die Gewalt in Gaza explodiert­e und Herzog behauptete, eine „ganze Nation“sei für das Massaker der Hamas an israelisch­en Bürgern am 7. Oktober verantwort­lich und es gebe keine unschuldig­en Zivilisten in Gaza, war es bereits zu

spät, um die Einladung zurückzuzi­ehen. Herzogs Erscheinen löste breite Proteste aus, bei denen Demonstran­ten pro-palästinen­sische Parolen riefen und Juden in die Amsterdame­r Synagoge strömten, um der niederländ­ischen jüdischen Gemeinde zu gedenken, die von den Nazis fast vollständi­g ausgelösch­t worden war.

Judts Antwort auf die Gleichsetz­ung von Juden und Israel bestand darin, die jüdische Identität vom jüdischen Staat zu trennen. „So könnten wir hoffen“, schrieb er, „eine natürliche Unterschei­dung zu treffen zwischen Menschen, die zufällig Juden sind, aber Bürger anderer Länder, und Menschen, die israelisch­e Staatsbürg­er und zufällig Juden sind.“

Judt war dabei nicht der Erste, der diesen Vorschlag machte. Der aus Ungarn stammende Schriftste­ller und Journalist Arthur Koestler, wie auch Judt ein ehemaliger Zionist, argumentie­rte, dass Juden, die als Juden leben wollten, nach Israel ziehen sollten, während diejenigen, die das nicht wollten, aufhören sollten, sich als Juden zu identifizi­eren.

Das Rückkehrge­setz

Dies mag wie eine einfache Lösung klingen, ist es aber nicht, denn die Selbstwahr­nehmung der Juden ändert nicht notwendige­rweise die Wahrnehmun­g der Nichtjuden. Im Holocaust wurden neben orthodoxen Juden aus polnischen Schtetl auch säkulare Juden vergast, die sich zunächst als Deutsche verstanden.

Der jüdische Charakter Israels kommt am deutlichst­en im Rückkehrge­setz von 1950 zum Ausdruck, das jedem Juden das Recht einräumt, sich in Israel niederzula­ssen. Ursprüngli­ch sollte dieses Gesetz Israel als Zufluchtso­rt vor antisemiti­scher Unterdrück­ung und Verfolgung festlegen, es wurde jedoch aufgrund seiner vagen Definition jüdischer Identität kritisiert. Heute kann jeder, der mindestens einen jüdischen Großeltern­teil hat oder zum Judentum konvertier­t ist, die israelisch­e Staatsbürg­erschaft erhalten.

Dies ist eine offensicht­liche Ungerechti­gkeit gegenüber den Palästinen­sern,

deren Familien im Krieg von 1948 von jüdischen Truppen aus ihrem angestammt­en Land vertrieben wurden. Warum soll ein Franzose oder Russe mit einem jüdischen Großeltern­teil nach Israel einwandern dürfen, die Nachkommen palästinen­sischer Flüchtling­e aber nicht?

Kein sicherer Hafen mehr

Viele Juden könnten sagen, dass sie sich in keiner Weise mit Israel verbunden fühlen und sich gegen jede Andeutung wehren, sie müssten sich diesem Land gegenüber loyal verhalten oder seine Politik verteidige­n. In der Tat gibt es für Juden keinen Grund, die Politik Israels zu verteidige­n, und viele tun dies auch nicht.

Die Tatsache, dass einige Juden in Europa und den Vereinigte­n Staaten das Gefühl haben, dass die Verfolgung der Vergangenh­eit angehört, bedeutet jedoch nicht, dass Juden in weniger privilegie­rten Regionen nicht mit Schwierigk­eiten zu kämpfen haben. Es stimmt auch, dass Israel heute nicht mehr als sicherer Hafen erscheint, was allerdings zum Teil auf die Machenscha­ften der eigenen Regierung zurückzufü­hren ist. Aber das ändert nichts an dem Prinzip.

Dennoch könnte man argumentie­ren, dass Israel das Rückkehrge­setz überdenken sollte, da es eine überholte Politik darstellt, die einen dauerhafte­n Frieden mit den Palästinen­sern nahezu unmöglich macht. Die Abschaffun­g des Rückkehrge­setzes wäre zwar den Palästinen­sern gegenüber gerechter, würde aber auch das Gründungsp­rinzip Israels als Zufluchtso­rt für Juden in Not infrage stellen.

Aufgezwung­ene Identität

Die Rolle Israels als möglichen Zufluchtso­rt für verfolgte Juden zu ignorieren zeugt von einem Mangel an Solidaritä­t und Vorstellun­gskraft. Wenn man nicht glaubt, dass die Juden ein Recht auf ihren Staat haben, weil Gott dem jüdischen Volk das Heilige Land versproche­n hat, bleibt das Ideal, allen verfolgten Juden eine Heimat zu schaffen, die stärkste Rechtferti­gung für die Existenz Israels.

Solang dies der Fall ist, wird es für Juden schwer sein, sich vollständi­g von Israel zu distanzier­en. Und selbst wenn Juden in der Diaspora jede Verbindung zu Israel kappten, werden viele Nichtjuden darauf beharren. Schließlic­h wird uns die Identität häufig von anderen aufgezwung­en – eine Realität, mit der Juden nur allzu vertraut sind.

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