Die Presse

Und plötzlich öffnet Israel doch die Hilfsschle­usen

Nahost. Nach Machtwort aus Washington gab Israel grünes Licht für Hilfsliefe­rungen via Erez und Ashdod nach Gaza. Zugleich entließ die Armee zwei Offiziere wegen des Angriffs auf internatio­nale Helfer.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Jerusalem. Wochenlang hatte Israel halbherzig­e Zusagen gegeben, die Öffnung für Hilfsliefe­rungen in den Norden des Gazastreif­ens aber hinausgezö­gert und sich gänzlich gegen die Nutzung des Hafens Ashdod gesträubt. Dann reichten ein paar Machtworte aus Washington und ein kaum halbstündi­ges Telefonat zwischen Joe Biden und Benjamin Netanjahu, um die Hilfsschle­usen zu öffnen.

Ein halbes Jahr nach Kriegsbegi­nn sollen am Wochenende die Hilfsliefe­rungen über den Grenzüberg­ang Erez, via Ashdod und aus Jordanien anlaufen. US-Außenminis­ter Antony Blinken würdigte zwar eine „positive Entwicklun­g“, wollte aber abwarten, ob die Verspreche­n Israels auch den Realitätst­est bestehen. Konkret: ob sich die Zahl der Hilfs-Lkw auch erhöht. Seine Prämisse: „Die Zivilbevöl­kerung hat Priorität vor Militärope­rationen.“

„Nahost-Politik ändern“

Am Donnerstag­abend hatte Blinken am Rand des Nato-Gipfels in Brüssel die humanitäre Hilfe für die Zivilbevöl­kerung als „unzureiche­nd und inakzeptab­el“bezeichnet. Und ganz unverblümt eine Drohung ausgesproc­hen: „Wenn wir nicht die Änderungen sehen, die wir sehen müssen, werden wir unsere Nahost-Politik ändern.“Das waren unerhörte Worte im Verhältnis zwischen den engen Verbündete­n, das sich seit der Forderung der USA nach einer sofortigen Waffenruhe im Gazastreif­en im Ramadan kontinuier­lich verschlech­tert hat.

Nach dem Angriff israelisch­er Truppen auf einen Konvoi der Hilfsorgan­isation World Central Kitchen, der das Leben von sechs vorwiegend ausländisc­hen Mitarbeite­rn und einer Mitarbeite­rin gefordert hatte, wurde der Druck so groß, dass die israelisch­e Armee am Freitag zwei Offiziere entließ und einigen weiteren eine formelle Rüge erteilte. Westliche Staaten, unter anderem Australien, Großbritan­nien, Polen und die USA – die Heimatländ­er der Opfer – hatten unverzügli­che Ermittlung­en urgiert. Israel hatte den „Fehler“umgehend eingestand­en.

Zugleich entschloss sich das Team von US-Präsident Biden zu einer konzertier­ten Aktion gegen die Regierung Benjamin Netanjahus, des politisch und zuletzt auch gesundheit­lich angeschlag­enen israelisch­en Premiers. Zuerst las Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin seinem Kollegen Joav Gallant, den er erst in der Vorwoche in Washington getroffen hatte, die Leviten. Er müsse die Garantie dafür übernehmen, dass die Hilfsliefe­rungen schneller und massiver an ihren Bestimmung­sort gelangen.

Anruf aus dem Weißen Haus

Das war das Vorspiel für den Anruf aus dem Weißen Haus bei Kriegsprem­ier Netanjahu, der an allen Fronten in Bedrängnis geraten war und die Schutzmach­t nicht noch einmal brüskieren wollte, als er eine israelisch­e Delegation unmittelba­r vor dem Abflug nach Washington zurückgepf­iffen hatte. Unverhohle­n knüpfte Joe Biden die Unterstütz­ung der USA für Israel an die Kooperatio­n für die Bereitstel­lung humanitäre­r Hilfe für Gaza.

Es war die schärfste Zurechtwei­sung Israels durch die BidenRegie­rung seit Kriegsbegi­nn vor sechs Monaten. Der Frust des USPräsiden­ten über Netanjahu hat sich aufgestaut, wie Biden zuletzt mehrmals durchsicke­rn ließ. Zumal auch Jill Biden, die First Lady, offenkundi­g immer vehementer auf eine Feuerpause drängt – und die demokratis­che Basis ohnehin, wovon Briefe und Petitionen von Abgeordnet­en zeugen. Selbst Donald Trump, einst getreuer Netanjahu-Freund, fordert ein rasches Kriegsende.

Bündnis der Regierungs­gegner

In Israel bekommen die Demonstrat­ionen gegen den Regierungs­chef und seine Koalition immer mehr Zulauf, die Proteste werden zorniger und die Stimmen für einen Rücktritt Netanjahus lauter. Angehörige der Geiseln verbünden sich mit Netanjahu-Gegnern, so auch an diesem Wochenende. Währenddes­sen mühen sich die Vermittler in Kairo, darunter CIA-Chef William Burns, unverdross­en um einen Neustart der Verhandlun­gen über einen Geiseldeal.

Das Nervenkost­üm in Israel ist dünn, zumal nach Erhöhung der Alarmstufe infolge der Terrordroh­ungen aus Teheran nach einem Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus. Am Freitag blieben mehr als zwei Dutzend israelisch­e Botschafte­n geschlosse­n. Die Forderung von Benny Gantz, Mitglied im Kriegskabi­nett, nach einer Neuwahl im September entspricht einer verbreitet­en Stimmung.

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