Und plötzlich öffnet Israel doch die Hilfsschleusen
Nahost. Nach Machtwort aus Washington gab Israel grünes Licht für Hilfslieferungen via Erez und Ashdod nach Gaza. Zugleich entließ die Armee zwei Offiziere wegen des Angriffs auf internationale Helfer.
Wien/Jerusalem. Wochenlang hatte Israel halbherzige Zusagen gegeben, die Öffnung für Hilfslieferungen in den Norden des Gazastreifens aber hinausgezögert und sich gänzlich gegen die Nutzung des Hafens Ashdod gesträubt. Dann reichten ein paar Machtworte aus Washington und ein kaum halbstündiges Telefonat zwischen Joe Biden und Benjamin Netanjahu, um die Hilfsschleusen zu öffnen.
Ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn sollen am Wochenende die Hilfslieferungen über den Grenzübergang Erez, via Ashdod und aus Jordanien anlaufen. US-Außenminister Antony Blinken würdigte zwar eine „positive Entwicklung“, wollte aber abwarten, ob die Versprechen Israels auch den Realitätstest bestehen. Konkret: ob sich die Zahl der Hilfs-Lkw auch erhöht. Seine Prämisse: „Die Zivilbevölkerung hat Priorität vor Militäroperationen.“
„Nahost-Politik ändern“
Am Donnerstagabend hatte Blinken am Rand des Nato-Gipfels in Brüssel die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung als „unzureichend und inakzeptabel“bezeichnet. Und ganz unverblümt eine Drohung ausgesprochen: „Wenn wir nicht die Änderungen sehen, die wir sehen müssen, werden wir unsere Nahost-Politik ändern.“Das waren unerhörte Worte im Verhältnis zwischen den engen Verbündeten, das sich seit der Forderung der USA nach einer sofortigen Waffenruhe im Gazastreifen im Ramadan kontinuierlich verschlechtert hat.
Nach dem Angriff israelischer Truppen auf einen Konvoi der Hilfsorganisation World Central Kitchen, der das Leben von sechs vorwiegend ausländischen Mitarbeitern und einer Mitarbeiterin gefordert hatte, wurde der Druck so groß, dass die israelische Armee am Freitag zwei Offiziere entließ und einigen weiteren eine formelle Rüge erteilte. Westliche Staaten, unter anderem Australien, Großbritannien, Polen und die USA – die Heimatländer der Opfer – hatten unverzügliche Ermittlungen urgiert. Israel hatte den „Fehler“umgehend eingestanden.
Zugleich entschloss sich das Team von US-Präsident Biden zu einer konzertierten Aktion gegen die Regierung Benjamin Netanjahus, des politisch und zuletzt auch gesundheitlich angeschlagenen israelischen Premiers. Zuerst las Verteidigungsminister Lloyd Austin seinem Kollegen Joav Gallant, den er erst in der Vorwoche in Washington getroffen hatte, die Leviten. Er müsse die Garantie dafür übernehmen, dass die Hilfslieferungen schneller und massiver an ihren Bestimmungsort gelangen.
Anruf aus dem Weißen Haus
Das war das Vorspiel für den Anruf aus dem Weißen Haus bei Kriegspremier Netanjahu, der an allen Fronten in Bedrängnis geraten war und die Schutzmacht nicht noch einmal brüskieren wollte, als er eine israelische Delegation unmittelbar vor dem Abflug nach Washington zurückgepfiffen hatte. Unverhohlen knüpfte Joe Biden die Unterstützung der USA für Israel an die Kooperation für die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Gaza.
Es war die schärfste Zurechtweisung Israels durch die BidenRegierung seit Kriegsbeginn vor sechs Monaten. Der Frust des USPräsidenten über Netanjahu hat sich aufgestaut, wie Biden zuletzt mehrmals durchsickern ließ. Zumal auch Jill Biden, die First Lady, offenkundig immer vehementer auf eine Feuerpause drängt – und die demokratische Basis ohnehin, wovon Briefe und Petitionen von Abgeordneten zeugen. Selbst Donald Trump, einst getreuer Netanjahu-Freund, fordert ein rasches Kriegsende.
Bündnis der Regierungsgegner
In Israel bekommen die Demonstrationen gegen den Regierungschef und seine Koalition immer mehr Zulauf, die Proteste werden zorniger und die Stimmen für einen Rücktritt Netanjahus lauter. Angehörige der Geiseln verbünden sich mit Netanjahu-Gegnern, so auch an diesem Wochenende. Währenddessen mühen sich die Vermittler in Kairo, darunter CIA-Chef William Burns, unverdrossen um einen Neustart der Verhandlungen über einen Geiseldeal.
Das Nervenkostüm in Israel ist dünn, zumal nach Erhöhung der Alarmstufe infolge der Terrordrohungen aus Teheran nach einem Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus. Am Freitag blieben mehr als zwei Dutzend israelische Botschaften geschlossen. Die Forderung von Benny Gantz, Mitglied im Kriegskabinett, nach einer Neuwahl im September entspricht einer verbreiteten Stimmung.