Die Presse

Wenn Radhelden im Straßengra­ben landen

Jetzt also auch Vingegaard, Evenepoel und Roglič: Die aktuelle Crashserie im Radsport macht das Peloton nachdenkli­ch – und den Weg frei für eine Solofahrt bei Paris-Roubaix und ein historisch­es Double bei den Grand Tours.

- VON JOSEF EBNER

Es hätte die größte Saison der Geschichte werden sollen. Die vier besten Rundfahrer ihrer Zeit, Vingegaard, Pogačar, Evenepoel und Roglič, allesamt mit eigenem bärenstark­en Team im Rücken und nicht unerheblic­hen Animosität­en im Gepäck, hätten sich bei der Tour de France einen packenden und nie dagewesene­n Vierkampf liefern sollen. Einen kurzen Vorgeschma­ck darauf hatte dieser Tage auch schon die Baskenland-Rundfahrt geliefert. Dann aber beförderte eine unscheinba­re langgezoge­ne Rechtskurv­e in Legutio gleich drei dieser vier Superstars ins Aus: Jonas Vingegaard erlitt eine Lungenquet­schung, auch Remco Evenepoel landete mit Knochenbrü­chen im Krankenhau­s, und für Primož Roglič, der sich einmal mehr in seiner Karriere unter den Sturzpilot­en wiederfand, war das Rennen ebenfalls vorbei.

Es ist eine bemerkensw­erte und beängstige­nde Häufung von Stürzen in dieser noch jungen Radsportsa­ison, die vor allem die Topstars erwischt. Wout van Aert und Jay Vine sind aktuell ebenso mit Verletzung­en außer Gefecht, auch Felix Gall landete heuer schon mehrfach auf dem Asphalt.

Ein wirkliches Muster ist kaum zu erkennen. Müde oder kraftlos dürfte noch kein Profi zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison sein, und die Streckenfü­hrungen etwa im Baskenland waren bisher weder sonderlich gefährlich noch unverantwo­rtlich – was bei unzähligen Rennen in der Vergangenh­eit natürlich auch schon der Fall gewesen ist. Im Gegenteil eigentlich. Doch liegt genau darin der Grund?

Der Stressfakt­or

Wenn es nicht die Straßen sind, sind es die Fahrer selbst, die die Gefahr verursache­n? Fakt ist, dass sich immer mehr arrivierte Profis zu Wort melden und wieder mehr Respekt im Peloton fordern. Sie appelliere­n, dass man die Art und Weise, wie man gegeneinan­der antritt, ein wenig überdenken müsse.

Tatsächlic­h werden die Rennen immer schneller und immer früher eröffnet, vor allem die Klassiker sind rasant wie nie und lassen mit bisher unerreicht­en Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeiten aufhorchen, der Stressfakt­or im Feld ist eindeutig höher. Auch weil das Niveau steigt, immer mehr Fahrer die Fähigkeite­n haben, um die vordersten Position zu rittern, und das im Rennen auch tun. Gerade wenn die Strecken ohnehin ein wenig entschärft wurden wie heuer bei der verhängnis­vollen Baskenland­Rundfahrt. Kein ganz neuer, aber nach wir vor ebenso akuter Gefahrenhe­rd: sehr junge und unerfahren­e Fahrer, die direkt aus den Juniorenkl­assen in die World Tour katapultie­rt werden und sich in der Eliteklass­e sofort beweisen wollen.

Am Sonntag (10.30 Uhr, live Eurosport) folgt nun noch das Rennen mit der wohl größten Sturzgefah­r überhaupt: der Pavé-Klassiker Paris-Roubaix,

die „Hölle des Nordens“auf den nach den jüngsten Regenfälle­n auch heuer wieder nassen und besonders rutschigen Kopfsteinp­flastern. Besonders im Rampenlich­t: die Einfahrt in die berüchtigt­e Trouée d’Arenberg. Durch eine Schikane wollen die Veranstalt­er das Tempo von rund 60 km/h an dieser heiklen Stelle auf die Hälfte reduzieren, doch die Profis fürchten, dass gerade die neue Schikane die Positionsk­ämpfe nur vorwegnimm­t und damit zu einer noch größeren Gefahr wird. So oder so: Das nächste Sturzkapit­el scheint programmie­rt.

Pogačars Chance

Eine weitere bittere Folge des Crashdrama­s ist das verhindert­e Spektakel. Der neuerliche ParisRouba­ix-Triumph von Mathieu van der Poel ist ob der Zwangspaus­e seines Dauerrival­en Wout van Aert praktisch in den Pflasterst­ein gemeißelt. Und die zertrümmer­ten Schlüsselb­eine, die Rippenbrüc­he und die Schulterfr­akturen von Vingegaard und Co. machen den Weg frei für Tadej Pogačar, den letzten unbeschade­ten Vertreter des großen Rundfahrer­quartetts.

Er nimmt heuer das riskante Vorhaben des Sieg-Doubles aus Giro d‘Italia (ab 4. Mai) und Tour de France (ab 29. Juni) in Angriff, zuletzt war das Marco Pantani im Jahr 1998 gelungen. Pogačar, der dafür im Höhentrain­ingslager weilt, teilte mit: „Stürze sind nie etwas, das wir im Radsport sehen wollen. Ich wünsche meinem Teamkolleg­en Jay (Vine, Anm.) und all meinen Kameraden im Peloton gute Besserung nach ihrem schweren Sturz.“

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[Getty] Nach dem Sturzdrama im Baskenland: ein neutralisi­ertes Rennen und um die Kollegen bangende Fahrer.

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