Wenn Radhelden im Straßengraben landen
Jetzt also auch Vingegaard, Evenepoel und Roglič: Die aktuelle Crashserie im Radsport macht das Peloton nachdenklich – und den Weg frei für eine Solofahrt bei Paris-Roubaix und ein historisches Double bei den Grand Tours.
Es hätte die größte Saison der Geschichte werden sollen. Die vier besten Rundfahrer ihrer Zeit, Vingegaard, Pogačar, Evenepoel und Roglič, allesamt mit eigenem bärenstarken Team im Rücken und nicht unerheblichen Animositäten im Gepäck, hätten sich bei der Tour de France einen packenden und nie dagewesenen Vierkampf liefern sollen. Einen kurzen Vorgeschmack darauf hatte dieser Tage auch schon die Baskenland-Rundfahrt geliefert. Dann aber beförderte eine unscheinbare langgezogene Rechtskurve in Legutio gleich drei dieser vier Superstars ins Aus: Jonas Vingegaard erlitt eine Lungenquetschung, auch Remco Evenepoel landete mit Knochenbrüchen im Krankenhaus, und für Primož Roglič, der sich einmal mehr in seiner Karriere unter den Sturzpiloten wiederfand, war das Rennen ebenfalls vorbei.
Es ist eine bemerkenswerte und beängstigende Häufung von Stürzen in dieser noch jungen Radsportsaison, die vor allem die Topstars erwischt. Wout van Aert und Jay Vine sind aktuell ebenso mit Verletzungen außer Gefecht, auch Felix Gall landete heuer schon mehrfach auf dem Asphalt.
Ein wirkliches Muster ist kaum zu erkennen. Müde oder kraftlos dürfte noch kein Profi zu diesem frühen Zeitpunkt der Saison sein, und die Streckenführungen etwa im Baskenland waren bisher weder sonderlich gefährlich noch unverantwortlich – was bei unzähligen Rennen in der Vergangenheit natürlich auch schon der Fall gewesen ist. Im Gegenteil eigentlich. Doch liegt genau darin der Grund?
Der Stressfaktor
Wenn es nicht die Straßen sind, sind es die Fahrer selbst, die die Gefahr verursachen? Fakt ist, dass sich immer mehr arrivierte Profis zu Wort melden und wieder mehr Respekt im Peloton fordern. Sie appellieren, dass man die Art und Weise, wie man gegeneinander antritt, ein wenig überdenken müsse.
Tatsächlich werden die Rennen immer schneller und immer früher eröffnet, vor allem die Klassiker sind rasant wie nie und lassen mit bisher unerreichten Durchschnittsgeschwindigkeiten aufhorchen, der Stressfaktor im Feld ist eindeutig höher. Auch weil das Niveau steigt, immer mehr Fahrer die Fähigkeiten haben, um die vordersten Position zu rittern, und das im Rennen auch tun. Gerade wenn die Strecken ohnehin ein wenig entschärft wurden wie heuer bei der verhängnisvollen BaskenlandRundfahrt. Kein ganz neuer, aber nach wir vor ebenso akuter Gefahrenherd: sehr junge und unerfahrene Fahrer, die direkt aus den Juniorenklassen in die World Tour katapultiert werden und sich in der Eliteklasse sofort beweisen wollen.
Am Sonntag (10.30 Uhr, live Eurosport) folgt nun noch das Rennen mit der wohl größten Sturzgefahr überhaupt: der Pavé-Klassiker Paris-Roubaix,
die „Hölle des Nordens“auf den nach den jüngsten Regenfällen auch heuer wieder nassen und besonders rutschigen Kopfsteinpflastern. Besonders im Rampenlicht: die Einfahrt in die berüchtigte Trouée d’Arenberg. Durch eine Schikane wollen die Veranstalter das Tempo von rund 60 km/h an dieser heiklen Stelle auf die Hälfte reduzieren, doch die Profis fürchten, dass gerade die neue Schikane die Positionskämpfe nur vorwegnimmt und damit zu einer noch größeren Gefahr wird. So oder so: Das nächste Sturzkapitel scheint programmiert.
Pogačars Chance
Eine weitere bittere Folge des Crashdramas ist das verhinderte Spektakel. Der neuerliche ParisRoubaix-Triumph von Mathieu van der Poel ist ob der Zwangspause seines Dauerrivalen Wout van Aert praktisch in den Pflasterstein gemeißelt. Und die zertrümmerten Schlüsselbeine, die Rippenbrüche und die Schulterfrakturen von Vingegaard und Co. machen den Weg frei für Tadej Pogačar, den letzten unbeschadeten Vertreter des großen Rundfahrerquartetts.
Er nimmt heuer das riskante Vorhaben des Sieg-Doubles aus Giro d‘Italia (ab 4. Mai) und Tour de France (ab 29. Juni) in Angriff, zuletzt war das Marco Pantani im Jahr 1998 gelungen. Pogačar, der dafür im Höhentrainingslager weilt, teilte mit: „Stürze sind nie etwas, das wir im Radsport sehen wollen. Ich wünsche meinem Teamkollegen Jay (Vine, Anm.) und all meinen Kameraden im Peloton gute Besserung nach ihrem schweren Sturz.“