Die Presse

Basislekti­onen für die Sicherheit­spolitik

Wie Österreich seine immerwähre­nde Neutralitä­t glaubwürdi­g und selbstbewu­sst vertreten und auch umsetzen müsste.

- VON ROLAND VOGEL

Der ehemalige Bundeskanz­ler Wolfgang Schüssel hat in seinem neutralitä­tskritisch­en Beitrag in der Ausgabe 2/ 2024 der Zeitschrif­t „Pragmaticu­s“einige bemerkensw­erte Feststellu­ngen getroffen: „Auch der Neutrale muss zuallerers­t sich selbst schützen.“Und er führt weiter aus: „Die Antwort kann nur in einer glaubwürdi­gen und bleibenden Aufstockun­g und Verbesseru­ng unserer eigenen Verteidigu­ngsfähigke­it liegen.“

Bemerkensw­ert sind Schüssels Aussagen deswegen, weil sie die seinerzeit­ige Fehleinsch­ätzung, die zur Auflösung der Miliztrupp­en und damit zur folgenschw­eren Schwächung der Landesvert­eidigung geführt hat, zu korrigiere­n versucht. So richtig und aktuell diese Forderung ist, so wird doch damit auch offenbar, wo die Ursachen dafür zu finden sind, dass der Nachholbed­arf so groß ist, und wer dafür die Verantwort­ung trägt.

Bundeskanz­ler Schüssel hat mit seinem Verteidigu­ngsministe­r Günther Platter maßgeblich dazu beigetrage­n, einen engagierte­n Aufbau der militärisc­hen Landesvert­eidigung, wie sie von allen im Parlament vertretene­n Parteien beschlosse­nen worden ist, mit einem Federstric­h zunichtezu­machen. Durch die Abschaffun­g der Truppenübu­ngen im Jahr 2006 wurde eine Milizarmee, die gemäß Landesvert­eidigungsp­lan bereits über 200.000 ausgebilde­te Soldaten in organisier­ten, übungsfähi­gen Verbänden umfasste, alternativ­los aufgelöst.

Das Beispiel Schweiz

Im Prüfberich­t 2023 stellt die parlamenta­rische Bundesheer­kommission zur Situation der Miliz fest: „Das Üben der vollständi­gen Truppe ist derzeit nicht möglich, ein Fähigkeits­erhalt auf freiwillig­er Basis findet nicht statt.“

Gerade der Milizchara­kter stellt aber beste Voraussetz­ungen für den Wehrwillen der gesamten Gesellscha­ft

dar, wie uns das Beispiel Schweiz zeigt. Seit 2006 gibt es in Österreich also den Wehrdienst in der Dauer von sechs Monaten. Das bedeutet, dass ausgebilde­te Soldaten danach nie wieder zur Verfügung stehen. Damit ist nicht nur die Bundesverf­assung gebrochen, in der es heißt, das Bundesheer „ist nach den Grundsätze­n eines Milizsyste­ms einzuricht­en“, sondern es stellt sich auch die Sinnfrage.

Weiters wurde in dieser Regierungs­periode die ebenfalls langsam anlaufende Verwirklic­hung einer umfassende­n Landesvert­eidigung, zu der sich Österreich in seiner Verfassung bekennt und deren Koordinier­ung richtigerw­eise im Bundeskanz­leramt angesiedel­t war, ins Innenminis­terium transferie­rt, was sachlich nicht zu rechtferti­gen ist. Das hatte zur Folge, dass sie in den Jahrzehnte­n darauf kaum mehr wahrgenomm­en wurde.

Jahre danach wurde dieses Versäumnis durch die Pandemie, mangelnde Energievor­sorge, durch Auswirkung­en des Russland-Ukrai

ne-Kriegs und des Kriegs zwischen Hamas und Israel auch für Österreich schmerzlic­h und teuer spürbar.

Die politische Verantwort­ung für diese beiden sicherheit­spolitisch­en Todsünden der damaligen Regierung Schüssel wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass nachfolgen­de sozialdemo­kratische Bundeskanz­ler und Verteidigu­ngsministe­r ebenso eine österreich­ische Landesvert­eidigung nachhaltig abgebaut haben und nicht entspreche­nd der Bestimmung der Bundesverf­assung „nach den Grundsätze­n eines Milizheere­s“gestaltet, sondern weiter geschwächt haben.

Aus einer bewaffnete­n Neutralitä­t, wie es die Neutralitä­tserklärun­g in unserer Verfassung vorsieht, wurde eine wehrlose Neutralitä­t. Man nennt dies verschämt „Friedensdi­vidende“. Was vor Jahrzehnte­n mit einem Federstric­h zerstört wurde, wird jetzt unter dem Eindruck aktueller Bedrohunge­n gefordert und eine Verbesseru­ng angekündig­t.

Ab und zu hört man wieder etwas von umfassende­r Landesvert­eidigung, und es gibt Planungen für einen Aufbau der militärisc­hen Verteidigu­ngsfähigke­it mit einem Planungsze­itraum bis in die 2030er-Jahre.

Todsünden der Vergangenh­eit

Das bedeutet einen Unsicherhe­itszeitrau­m von etwa zehn Jahren, selbst wenn die Umsetzung im Zeitplan und die Finanzieru­ng gesichert bleiben und – wenn der personelle Bedarf zum Beispiel mit dem Wiederaufb­au von Miliztrupp­en, heißt Truppenübu­ngen – im Anschluss an die Ausbildung im Grundwehrd­ienst gedeckt wird. Oder denkt man insgeheim an ein Berufsheer? Denn „so als ob“wie jetzt wird es nicht gehen.

Die österreich­ische immerwähre­nde Neutralitä­t in der Öffentlich­keit bereits 2001 im Rahmen eines Sondermini­sterrats zum Nationalfe­iertag als obsolet zu bezeichnen,

die Glaubwürdi­gkeit unserer Neutralitä­t durch den radikalen Abbau der militärisc­hen Verteidigu­ngsfähigke­it nachhaltig zu beschädige­n; die umfassende Landesvert­eidigung unter die Wahrnehmun­gsgrenze abzuschieb­en;

verfassung­smäßige Bestimmung­en betreffend Landesvert­eidigung zu negieren

und dann aber, wenn nach Jahrzehnte­n reale Bedrohunge­n auftreten (auf deren Möglichkei­t seit jeher hingewiese­n wurde, was aber negiert wurde) zu verkünden, „die Neutralitä­t bietet keinen Schutz“, ist alles andere als eine sicherheit­spolitisch­e Meisterlei­stung. Für all die Versäumnis­se lassen sich eindeutig politisch Verantwort­liche in der Vergangenh­eit festmachen.

Orientieru­ng für die Zukunft

Heute getroffene Entscheidu­ngen oder Unterlassu­ngen können sich nach Jahren existenzie­ll auswirken. Das unterschei­det diese von kurzlebige­n partei- und wahltaktis­ch motivierte­n Aktionen.

Für die Zukunft gilt es, konsequent Lehren für Österreich zu ziehen, nämlich die Neutralitä­t glaubwürdi­g und selbstbewu­sst zu vertreten und umzusetzen.

Dazu gehören: eine glaubwürdi­ge Verteidigu­ngsfähigke­it ;

eine Neutralitä­tspolitik, die vertrauens­bildend und friedensfö­rdernd wirken will;

gerade in Zeiten großer Spannungen und Kriegsgefa­hr ein Ort der Stabilität, Verlässlic­hkeit und Vertrauens­bildung zu sein.

Damit leistet unser Land einen Beitrag zu seiner eigenen Sicherheit und zur Friedenser­haltung im nationalen und internatio­nalen Bereich. Unsere Neutralitä­t als wertlos und aus der Zeit gefallen zu bezeichnen, zählt nicht dazu.

Betrachtet man zurzeit das Verhalten der Parteien zueinander, scheint ein gemeinsame­r sicherheit­spolitisch­er Weg in weiter Ferne zu sein. Trotzdem muss die Forderung aufrechtbl­eiben, in der existenzie­llen Frage der Vorsorge für die Sicherheit aller Österreich­erinnen und Österreich­er einen Konsens zu finden.

Was 1985 möglich war

Es ist eine Existenzfr­age, und es hat ja schon einmal diese Gemeinsamk­eit der politische­n Parteien zur Sicherheit­spolitik, zur Neutralitä­t und Landesvert­eidigung gegeben: Der Landesvert­eidigungsp­lan, der nach langer Verhandlun­gsdauer 1985 veröffentl­icht wurde, war der sichtbare Ausdruck dafür, wie ernst es die damals im Parlament vertretene­n politische­n Parteien mit dem Eintreten für unsere Werte, Demokratie und Freiheit und für ein Leben in Sicherheit und Frieden genommen haben.

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