Aufbruch zu einer Welt ohne Grenzen
Es wird immer wieder kritisiert, die EU sei nur ein Elitenprojekt. Aber in den Sechzigerjahren war die kollektive Fantasie schon weiter: über ein Europa, das Schritt für Schritt eine nachnationale Politik umsetzte – und über Perry Rhodan.
Ist die Europäische Union ein schwarzes Loch? Ein Gebiet, in dem die Materie in sich selbst zusammengefallen ist, wodurch sich eine enorme Menge Masse auf einem unglaublich kleinen Raum konzentriert? Dieser Raum wird „Brüssel“genannt. Siebenundzwanzig Staaten, fast vierhundertfünfzig Millionen Menschen auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratkilometern: zusammengefallen und verdichtet auf „Brüssel“.
Die EU scheint nur noch als diese Chiffre zu existieren: „Brüssel“, das die Souveränität der Nationalstaaten, „nationale Interessen“und vor allem die Demokratie, die nur als nationale vorstellbar sei, verschlucken will, im Weltraum, der Europa heißt. So erscheint heute der vorherrschende politische Europadiskurs. Aber auch in der literarischen oder intellektuellen Auseinandersetzung existiert die EU im Sinne ihrer Idee im deutschen Sprachraum in einem schwarzen Bewusstseinsloch, schlicht auch nur als „Brüssel“.
Es gibt von zeitgenössischen europäischen Autoren Bücher über Globalisierung und (Post-)Kolonialismus, kenntnisreiche und analytische Literatur über Allerwelt, aber auf vergleichbarem Niveau so gut wie nichts über Europa, über die EU, über den großen Transformationsprozess des eigenen Kontinents, die Grundlage und die Rahmenbedingungen unseres Lebens, Handelns, Denkens, Hoffens und Scheiterns. Selbst ein von mir bewunderter Großintellektueller wie Hans Magnus Enzensberger, als er von seiner luziden Zeitgenossenschaft der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im 21. angekommen war, konnte zu EU nur „Brüssel“assoziieren, das er „sanftes Monster“ nannte – eine Demonstration seines kritischen Geistes, der keine große Lust zu haben schien, zu verstehen, was er kritisierte. Er beglückte damit viele Menschen, die genau das brauchten: in ihrem Selbstgefühl als kritische Geister bestätigt zu werden, begeistert davon, dass dabei keines ihrer Vorurteile infrage gestellt wurde. Globalisierungsgewinner, die die Globalisierung nicht verstehen, EU-Profiteure, die keine Ahnung von der EU haben, Opfer nationalistischer Verblendungen, die sich ihre Misere nur so erklären können, dass die Nationalisten, die sie gewählt haben, noch nicht nationalistisch genug waren, und Populisten, die nicht einmal populär sind: Sie alle, links und rechts, verbindet das Gefühl bzw. die Selbstdarstellung, „kritische“Bürger zu sein, und die Wähler sind in ihren Ressentiments und Aggressionen nur durch ihre Parteipräferenzen gespalten.
Hier sieht man, welche Konsequenzen es hat, wenn „Kritischsein“an und für sich zum gesellschaftlichen Fetisch gemacht wird – dann sind alle kritisch, aber ohne gemeinsames Fundament. Es soll Zeiten gegeben haben, da beruhte Kritik auf Analyse, ihr Besteck waren Theorie und Methode.
Manchmal, an Sonntagen, erscheint „Brüssel“als eine transzendente Macht, an die Fürbitten gerichtet werden, aber während der Woche, im politischen Alltag, als eine Bedrohung, der gegenüber sich Staats- und Regierungschefs aufblähen mit der Beteuerung: Wir lassen uns nicht verschlucken! Das ist natürlich politischer Unsinn. Aber wirksam. Denn real wird Europa durch die Chiffre „Brüssel“tatsächlich gespalten. Da ist einerseits das Europa der gemeinsamen Institutionen, das nach der Meinung von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern unzulässig und bedrohlich in das Leben der Menschen in den Mitgliedstaaten hineinwirkt, nationale Souveränität absaugen und die Politik des Kontinents zentralisieren will, und andererseits sind da die immer noch als natürlich und geradezu einzig menschengerecht empfundenen Nationalstaaten, das Europa der
„Vaterländer“, deren Regierungen sich gegen „Brüssel“wehren, Souveränitätsrechte zurückholen und die EU, wenn schon nicht komplett zerstören, zumindest von der politischen Union zur bloßen Wirtschaftsgemeinschaft zurückbauen möchten.
Ich habe nicht die Absicht, jemanden zu beleidigen, aber ich will versuchen, zu begründen, warum das ziemlich dumm ist, wissend, dass die Dummen nicht sich selbst dumm finden, sondern mich.
Vor rund siebzig Jahren sind europäische Nationen bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten. Das ist ein Faktum und ich wiederhole diesen Sachverhalt, damit das jetzt fix und unmissverständlich als Voraussetzung für alle weiteren Diskussionen über die EU klargestellt ist: Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten. Und das nicht, weil ein paar Politiker zufällig mit einem Schnapshändler zusammengesessen hatten und gerade so bei Laune waren.
Diese Generation hatte in nur einer Lebenszeit ihre Erfahrungen mit gleich mehreren verheerenden nationalistischen Kriegen gemacht. Aufgewachsen in der vergifteten Atmosphäre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, erlebte sie die Balkankriege, den Ersten Weltkrieg, den Einmarsch Polens in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, daraufhin den Polnisch-Sowjetischen Krieg und den Zweiten Weltkrieg. Wie gesagt: das alles nur während der Dauer eines Menschenlebens. In Europa. Es waren nach dem Ersten Weltkrieg wohl starke Friedensbewegungen entstanden, aber all die schönen Parolen, die Waffen niederzulegen, die Manifeste zur Ächtung von Krieg als Mittel der Politik, die Friedensdemonstrationen – all das konnte nichts nützen, weil der Aggressor selbst nicht infrage gestellt wurde, nämlich die Nation, als Idee und politisches Faktum.
Friedensverträge zwischen Nationen waren, wie sich zeigte, das Papier nicht wert, auf dem sie besiegelt wurden. (Das zeigt sich bis heute immer wieder! Man denke zum Beispiel an den „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft“zwischen Russland und der Ukraine.) Diese Verträge waren bloße Termingeschäfte, um Zeit für Aufrüstung zu gewinnen. Betrug und Selbstbetrug, pastellfarbene Luftblasen, die zerplatzen mussten, wenn die sogenannten „nationalen Interessen“im wahrsten Sinn des Wortes wieder schlagend wurden: der Kampf um Territorium, Bodenschätze, Märkte, Einflusssphären und ach, ganz wichtig, zur Bestätigung von Nationalstolz und nationalem Überlegenheitsgefühl.
Verflechtung verfeindeter Nationen
Die Gründergeneration des europäischen Einigungsprojekts, das zur heutigen EU geführt hat, hat aus diesen Erfahrungen eine konsequente Lehre gezogen, sie hat den Aggressor erkannt, benannt und einen Plan entwickelt, ihn zu überwinden: den Nationalismus. Der Nationalismus hatte zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet. Das sollte nie mehr geschehen können. Die Idee war, verfeindete Nationen zu verflechten, ihre jeweiligen Interessen unter gemeinsame Kontrolle zu stellen und in gemeinsamer Verwaltung zu gemeinsamen Interessen zu entwickeln. An diesem Punkt ist aus historischer Erfahrung eine Utopie und aus dieser Utopie ein realer historischer Prozess geworden: das nachnationale Europa under construction. Ohne diese politische Entscheidung und ihre schrittweise Umsetzung wäre „Nie wieder!“eine bloße Floskel.
Und dann geschah etwas, das man als Beweis für die These, es gebe eine List der Geschichte, anerkennen muss. Die Idee, ein nachnationales Europa aufzubauen, war, wie gesagt, ein Befriedungsprojekt für unseren Kontinent, gleichsam eine Sicherung, dass sich Geschehenes nicht mehr wiederholen kann. Es war also wesentlich bezogen auf historische Erfahrungen. Aber eine Vorstellung davon, wie sich die Zukunft global entwickeln würde, hatten die Gründer des europäischen Einigungsprojekts naturgemäß nicht haben können. Und dann stellte sich heraus: Die Zukunft hieß Globalisierung. Sie entwickelte sich ungeplant, anarchistisch und mit größter Dynamik, sie durchbrach nationale Grenzen, zerstörte nationale Souveränität in Hinblick
Hier sieht man, welche Folgen es hat, wenn „Kritischsein“an und für sich zum gesellschaftlichen Fetisch gemacht wird.
auf die wesentlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion unseres Lebens.
Globalisierung bedeutet die Schaffung von transnationalen Produktions- und Lieferketten, allseitige Abhängigkeiten voneinander, um Güter herzustellen, die in allen Weltteilen und Klimaten zugleich verbraucht werden. Globalisierung produziert dramatische Krisen und Abhängigkeiten, die mit nationaler Politik, so wir dem Traum von nationaler Souveränität immer noch anhingen, gar nicht mehr gemanagt werden können. Das nenne ich List der Vernunft, und das sollte den Europaskeptikern ein einsichtiges Argument für die Sinnhaftigkeit der europäischen Einigung sein: Die Entwicklung, die in Europa als Konsequenz unmittelbarer historischer Erfahrungen angestoßen wurde, erweist sich heute aufgrund der zeitgenössischen globalen Entwicklung als einzig zukunftstaugliche. Denn trans- und nachnationale Politik wird in Europa bereits seit siebzig Jahren geplant und schrittweise entwickelt. Sie ist daher objektiv der Globalisierung voraus.
Das Problem ist allerdings, dass die europäischen Staatenlenker bis hin zur Kommissionspräsidentin immer wieder verkünden, dass „wir“, die jeweilige Population der europäischen Nationalstaaten oder die Europäer insgesamt, im Weltengefüge mit seinen großen Machtblöcken ein „Niemand“seien und dass wir endlich „fit“für die Globalisierung gemacht werden müssten – statt zu begreifen und zu kommunizieren, dass die EU eigentlich einen Vorsprung hätte und füglich als Avantgarde in der Welt bezeichnet werden müsste. Denn in Hinblick auf die notwendige und mögliche bewusste Gestaltung transnationaler Prozesse verfügt nur die EU über langjährige Erfahrung und also Expertise.
Hätte, müsste, wäre. Schaut man sich die Politik hinter den „Fit für die Globalisierung“-Phrasen an, sieht man schnell, dass von den europäischen Politikern die Vorteile und Möglichkeiten europäischer Gemeinschaftspolitik gar nicht erkannt werden, vielmehr kämpfen, bitten, betteln und beten sie kurzsichtig um kurzfristige nationale „Erfolge“, und das heißt „Standortpolitik“. Bitte, lieber Multi, investiere bei uns und nicht bei einem anderen (Mitglied der Union), wir zahlen dir die Infrastruktur, kommen dir bei der Steuer entgegen. – Nein! Nein! Komm zu uns, wir bieten noch niedrigere Steuersätze! – Und so weiter. Dies als Fitnessprogramm für die Globalisierung zu verstehen und gleichzeitig vor den Nationalisten in die Knie zu gehen ist ein grotesker, selbstzerstörerischer Widerspruch, und die Standort-Konkurrenz der europäischen Staaten ist just die Politik, gegen die das europäische Einigungsprojekt gegründet wurde: Konkurrenz um Ressourcen, mit nationaler Emphase. Die Lehren aus der Geschichte und unsere zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. Geplant war die Überwindung des Nationalismus, und man kann füglich darüber streiten, wie weit die Gründergeneration vorausgeblickt hat und ob sie sich perspektivisch sogar auch ein Absterben der Nationalstaaten hat vorstellen können.
Denkt man darüber nach, hätte es eine innere Logik, und es gäbe logische Argumente für seine Notwendigkeit. Die EU hatte, durch ihre Utopie, die über mehr als ein halbes Jahrhundert in Realpolitik übersetzt wurde, einige Schritte in diese Richtung gemacht. Aber dürfen wir von der Geschichte Logik erwarten? Die Geschichte bietet Verwüstungen und Wunder und wieder Zerstörung und kurzfristige Konsequenzen und Vergessen. Logik? Ist womöglich nur ein Pausenfüller. Aber dies ist unbestreitbar: Die EU ist das vorläufige reale Ergebnis einer konkreten Utopie, eines Blicks in die Welt von morgen, in eine Zukunft, auf der Basis von historischen Erfahrungen und von Gestaltungswillen.
Hingegen die nationalistische Kritik daran – was will sie, was stellt sie sich unter Zukunft vor? Die Rückkehr in eine Geschichte, die es nie gegeben hat (ein glückliches, ethnisch definiertes Volk lebt auf seinem Territorium in freier Selbstbestimmung in Frieden und allgemeinem Wohlstand und trotzt allen Stürmen der Geschichte). Eine Rückkehr ins Nie-Gewesene ist keine Zukunft. Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören.
Dass die Welt von morgen nachnational sein wird (und soll), war gestern noch äußerst populär – zumindest zwei Jahrzehnte lang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das kann man an massenkulturellen Phänomenen der sechziger Jahre ablesen, zum Beispiel an extrem erfolgreichen Science-Fiction-Romanen oder -Filmen, die in ihrer besonderen Form wohl kaum hätten phantasiert werden können ohne die Erfahrungen mit den nationalistischen Kriegen und ohne die darauf folgenden realen politischen Schritte Europas in eine nachnationale Zukunft.
Im Jahr 1957 war mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet worden. Es hieß Wirtschaftsgemeinschaft, aber ihre Entscheidungen waren große
Schritte in Hinblick auf Gemeinschaftspolitik. Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer, das überdeutliche Symbol der Spaltung der deutschen Nation, man kann auch sagen, der pragmatischen Anerkennung ihrer Zerstörung. Wir müssen hier nicht beteuern, dass der Mauerbau ein Verbrechen war, er war eine Konsequenz des großen nationalistischen Kriegs und bedeutete den definitiven Eintritt Deutschlands in nachnationale politische Systeme: Westanbindung und EWG auf der einen und Ostblock auf der anderen Seite.
Just im September dieses Jahres erschien das erste Heft der Reihe Perry Rhodan, mit einem bis dahin für sogenannte „Schundhefte“ungekannten Verkaufserfolg. Die Handlung beginnt im Jahr 1971, in dem die Welt in drei Blöcke gespalten ist, einen Westblock, einen Ostblock und eine von China dominierte Asiatische Föderation. Aber die Menschen erkennen, dass militärisch aufgerüstete, konkurrierende Blockbildungen so wenig wie Nationen den Frieden auf Erden sichern können. Es ging beim Projekt Perry Rhodan nur vordergründig um den Aufbruch zu den Sternen, vielmehr wollte diese Heftreihe die Sehnsucht so vieler Menschen ausdrücken, „die Unterschiede zwischen Nationen, Völkern, Religionen und Hautfarben endlich zu begraben“, wie ein Redakteur schrieb.
Ein Märchen von übermorgen
Perry Rhodan war die Projektion von Friedensprojekt und Gemeinschaftspolitik in die Zukunft, die Reihe überwand die Mauer schon im Jahr ihrer Entstehung, ohne die Nation zu restaurieren, sie hob sie in einer nachnationalen Menschheit auf. Und bald darauf produzierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen (es gab noch kein anderes) eine ScienceFiction-Serie, die zum Straßenfeger wurde, nämlich „Raumpatrouille Orion“. In der Intro sagte eine sonore Stimme: „Hier ist ein Märchen von übermorgen. Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit“, und nicht nur ich, auch meine Mutter war so ergriffen, dass ich, der tunlichst nicht fernsehen sollte, mir alle Folgen anschauen durfte.
Es wird immer wieder kritisch angemerkt, die EU sei doch nur ein Elitenprojekt. Aber in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die kollektive Phantasie schon weiter als die der heutigen politischen Eliten.
Eine Rückkehr ins Nie-Gewesene ist keine Zukunft. Der Nationalismus hat keine Zukunft.