Wo sind die armenischen Mädchen?
Expedition Europa: Ich begann über das Thema selektive Abtreibung zu recherchieren. Als Mann konnte ich daran nur scheitern.
Armenien rühmt sich seiner frühchristlichen Zivilisation, ist aber mit einem Stigma gezeichnet – selektive Abtreibungen weiblicher Föten. Laut CIA Factbook lag Armenien 2017 nur knapp hinter China, gleichauf mit Indien und vor dem Erzfeind Aserbaidschan: Auf 100 geborene Mädchen kamen 112 Buben. Besonders ausgeprägt ist das Phänomen ab dem zweiten Kind. Für die dritte Tochter haben alle Kaukasus-Sprachen spezielle Schimpfnamen. Sie bedeuten überall dasselbe: „Es reicht.“
Ich begann das Thema, an dem ich als Mann nur scheitern konnte, vor zweieinhalb Jahren zu recherchieren. Gohar Schahnasarjan, Direktorin des „Center for Gender Studies“an der Staatlichen Universität und Co-Autorin einer Studie zum Thema, erklärte mir an ihrem Jerewaner Arbeitsplatz, SSA (sex-selective abortion) sei hier „nichts Extremes, das hat es hier immer gegeben“. Heute werde weniger zu Hause „mit rostigen Metallstücken“abgetrieben, dafür mehr mit vom Arzt verschriebenen Pillen. „In den frühen Nullerjahren war Armenien führend, da kamen 120 bis 140 Buben auf ein Mädchen.“Weil: Der Sohn ist der Stammhalter. Auf Armenisch: „Der Hüter des Familienrauchs“.
Das Gesetz von 2016, das SSA explizit verbot, habe „nicht wirklich etwas verbessert“. Als die im kleinen Büro mithörenden Mitarbeiterinnen den Kopf wiegten, besserte sich Schahnasarjan auf „eine vielleicht kleine Verbesserung“aus. Die bekennende Befürworterin von Abtreibungsrechten mochte „diese Debatte über die fehlenden Mädchen nicht“, das sei ein „auf gewisse Weise manipuliertes Thema. Was ist mit häuslicher Gewalt, mit sexuellem Missbrauch? Ich möchte das Thema nicht abtun, aber es lenkt uns von anderen ab.“Denn: „Ja, wir werden diskriminiert. Oder etwa nicht?“Sie blickte in die Runde. Die jungen Kolleginnen kicherten.
In diesem Winter fuhr ich in die Region, in der noch 2013 der traurige Rekord von 124 Buben pro 100 Mädchen erzielt worden war, nach Gegharkunik. Ich wählte ein Dorf am etwa 1250 km2 großen Sewansee, auf fast 2000 Höhenmetern, zwischen baumlos angezuckerten Höhenzügen gelegen.
Ich stieg spät am Abend bei einem alten Dorfschuldirektor ab, der persönlich vor Zufriedenheit
schnurrte. Auf dem Küchentisch Mehlspeisen, Brandy, Obst, das alles „hat man mir gebracht“. Jedes zweite Haus stand aber leer. Viele seiner Schüler warteten nur, bei ihm die Hauptschule fertig zu machen, „dann holen sie sich den russischen Pass und ziehen den Eltern nach Russland nach“. Er selbst war auch noch nicht Opa. Seine vielsprachige Tochter arbeitete in Jerewan für die EU, verdiente aber angeblich „nur 200 Dollar im Monat“und verbrachte täglich mehrere Stunden in Bussen. Sein Sohn lebte mit einer Irin in Irland, die „aber nicht nach Armenien ziehen will“. Bezüglich SSA gab er zu: „Dieses Problem hat’s gegeben, aber das Verbot von 2016 hat geholfen.“– „Warum ist es gerade hier so verbreitet?“– „Weiß nicht. Die Leute wollen einen Stammhalter.“
Er erzählte von dem Gehöft, auf das unser Blick hinausging. Alle vier Söhne waren in die Zentralukraine emigriert, auch nach zwei Jahren Krieg erwog keiner die Rückkehr. Den verwitweten Vater pflegte die Frau des Jüngsten, der als Letzter nach Winnyzja gezogen war. Ich sagte: „Toller Stammhalter!“Der alte Dorfschuldirektor nickte niedergeschlagen.
Morgens spazierte ich durchs Dorf. Zumal Provinz-Armenierinnen wenig rausgehen, sah ich kaum Frauen. Eine bunt beschürzte Alte fütterte ihre Hendl, eine Mutter zog ihr Söhnchen an der Hand, das Fräulein auf der Post wartete auf männliche Kunden, die Putzfrau der Kirche auf ihren Mann. In einer Boutique für Kindermode war ich endlich mit einer Gegharkunikerin allein. Ihr stellte ich die quälende Frage: „Wo sind hier die Mädchen?“– „Das weiß ich nicht.“