Wir buken Brote und spendeten Blut
Die Amerikanerinnen Deanna und Rose hatten gerade ihr Gap Year in Israel begonnen, als die Hamas angriff. Trotz der alltäglichen Gefahr sind sie geblieben. Sie helfen Teenagern, die ihr Zuhause verlassen mussten, und arbeiten auf den Feldern mit.
‘‘ Wenn man in New York jemanden mit einer Waffe sieht, rennt man weg. Hier rennt man nicht. Alle sind Soldaten.
Als die Sirenen losheulten, sind wir in den Luftschutzbunker gegangen“, erzählt die 18-jährige Deanna. „Am Anfang habe ich mich sehr gefürchtet. Es war besser, nicht nachzudenken.“Deanna stammt aus einer religiösen jüdischen Familie aus Colorado in den Vereinigten Staaten und absolviert seit August 2023 ein Gap Year in Jerusalem. Am 7. Oktober, als die Hamas in einem Terroranschlag 1200 Zivilisten abschlachtete und Hunderte Menschen entführte, feierten Juden das Fest Simchat Torah. „Wir sind im Bunker gesessen und haben gesungen. Es war furchtbar, aber diese Momente haben uns einander nähergebracht.“
Der Luftschutzbunker im Gebäude, in dem Deanna gemeinsam mit ihren Studienkollegen wohnt, ist gleichzeitig die Gemeinschaftsküche. 60 Studenten waren dort zusammengepfercht. „Über unseren Köpfen haben wir Gurken, Karotten und Hummus herumgereicht. Wir wussten, dass wir uns aufeinander verlassen können.“
Ihre Mutter machte sich Sorgen und wollte, dass Deanna zumindest für einige Zeit nach Hause komme. „Acht Amerikaner verließen das Programm. Auch viele Israelis brachen ab. Aber ich wollte nicht weg. Ich hätte zu viele mir wichtige Menschen zurückgelassen.“Ihr Vater kam dann für ein paar Wochen zu Besuch, um als Freiwilliger zu arbeiten.
Die erste Zeit nach dem 7. Oktober verlief chaotisch. „Wir sind nirgendwo hingegangen. Alles fühlte sich gefährlich an. Unsere Betreuer reisten heim oder wurden in die Armee eingezogen.“Lehrer unterrichteten stundenweise, und die Jugendlichen halfen in der unmittelbaren Umgebung aus. Nach ein paar Wochen benutzten sie wieder die öffentlichen Verkehrsmittel. „Bis Ende Dezember spielte sich alles wieder ein. Statt der Praktika halfen wir am Mittwoch auf den Feldern mit. Die Bauern haben ihre Arbeiter durch den Krieg verloren.“Darauf ist Deanna stolz. Die Hilfe werde dringend gebraucht. „Meine Freunde denken auch so. Es ist das Mindeste, was wir tun können.“Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil ihr Leben schnell wieder normal geworden ist. Für viele Menschen in Israel sei das nicht der Fall. „Wir helfen jetzt zum Beispiel zweimal pro Woche vertriebenen Teenagern in einem Hotel in der Nähe.“
„Mir tun die Palästinenser leid“
Vor Kurzem wurden einige Studienkollegen informiert, dass sie vorzeitig in die Armee einberufen werden. „Wir ärgern uns sehr darüber, dass die Regierung Studenten aus einjährigen Gap-Year-Programmen abzieht, aber mehrjährige religiöse Yeshiva-Programme davon ausgenommen sind.“Von diesen Programmen würden nur ältere Jahrgänge für die Armee ausgewählt.
„Das ist nicht fair“, findet
Deanna. Gegen diese Rekrutierungspläne werde auch demonstriert.
Mit ihren Freunden diskutiert Deanna viel über die politische Situation. Das Shalom-Hartman-Institut, an dem Deannas Gap-Year-Programm stattfindet, ist liberal-zionistisch geprägt. „Vor dem Krieg haben wir viel über die Justizreformen gesprochen. Wir waren jeden Samstagabend demonstrieren und trafen auch Mitarbeiter des Instituts dort.“Die meisten lehnen den Premierminister ab und befürworten eine Zwei-Staaten-Lösung. „Aber niemand hat einen guten Plan. Der 7. Oktober hat alles verschärft.“Bei den Protesten geht es jetzt um die Heimkehr der Geiseln. „Dieselbe Gruppe, die gegen die Justizreform protestiert hat, trifft sich jetzt am Hostages Square in Tel Aviv.“Es gibt eine palästinensisch-israelische Vortragende am Institut, deren Kurse Deanna besonders interessieren. „Sie erklärt uns die Lage aus der Sicht der Palästinenser. Das schätze ich sehr. Ich versuche, beide Seiten zu sehen. Nach dem 7. Oktober schaute ich jeden Tag Al Jazeera. Ich wollte wissen, was sie berichteten.“Deanna hat großes Mitgefühl für die Palästinenser. „Ich bin hier und sehe das Leiden. Mir tun die Palästinenser und vor allem die Kinder wirklich leid. Ihr Leben ist zerstört. Viele werden getötet. Das muss gestoppt werden, aber ein Kriegsende ist nicht möglich, solange die Geiseln nicht befreit sind.“
Vor dem Beginn ihres Gap Year hatte sich Deanna ihre Wünsche und Ziele für das Jahr aufgeschrieben. „Ich wollte ein persönliches Gleichgewicht zwischen der Befürwortung des Existenzrechts Israels und Kritik an der Regierung finden. Ich verstehe jetzt, dass ich die israelische Regierung genauso wie die amerikanische kritisieren kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“Mittlerweile fühlt sich Deanna als israelischer Insider. „Nach dem 7. Oktober begann jedes Gespräch mit ,Wo warst du?’“. Jeder erzählte seine Geschichte. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich dort Außenseiterin sein, nachdem ich diese Erfahrung gemacht habe.“Sie werde sich immer an den Luftschutzbunker und die Sirenen erinnern.
Dieses Jahr habe den Wunsch in ihr geweckt, auf Dauer nach Israel zu ziehen. Doch vorerst wird sie Ende Mai wieder in die USA zurückkehren. Antisemitismus hatte sie an ihrer dortigen High School ebenso erlebt wie in den sozialen Medien, weshalb sie sich für ein College mit vielen jüdischen Studierenden entschieden hat. „Ehemalige Schulkollegen gehen auf pro-palästinensische Demonstrationen. Manchmal bin ich sogar ihrer Meinung. Dann wird ein antisemitischer Beitrag gepostet. Ein Schild mit der Aufschrift ‚Blut an deinen Händen‘ und einem Davidstern ist nicht antizionistisch, sondern antisemitisch.“
Es gibt eine große Bandbreite bei den Gap-Year-Programmen, die in Israel angeboten werden. Sie reichen von reinen Praktikums- und Freiwilligenprogrammen bis hin zu ausschließlich religiösem Unterricht. Deannas Programm am ShalomHartman-Institut bietet eine Kombination aus Unterricht und Praktikumsmöglichkeiten an. Die Studenten stammen je zur Hälfte aus Israel und den USA, ein kleiner Teil aus anderen Ländern. Die Israelis absolvieren traditionell ein Gap Year, bevor sie in die Armee eintreten, die Amerikaner nach der High School. Rabbinerin Cohen, die am Institut unterrichtet, erklärt: „Zu dem Zeitpunkt sind sich die Studenten ähnlich, haben die gleichen Taylor-Swift-Songs gehört und TikTokVideos gesehen. Sie tragen dieselbe Kleidung. Erst wenn die Amerikaner ins College gehen, wachsen die Unterschiede.“
Am 7. Oktober reagierten amerikanische und israelische Studenten unterschiedlich. „Die Amerikaner waren ziemlich ruhig, denn in ihren Augen gibt es immer Kriege in Israel. Sie haben den Ernst der Lage nicht verstanden. Die Israelis, von denen viele aus dem Süden kommen, begriffen schnell, dass dies anders war.“Auch ehemalige Schüler befanden sich unter den Opfern. Rabbinerin Cohen beobachtete, dass die Entscheidung über einen Abbruch des Jahres die Frage aufwarf, was es heißt, Teil des jüdischen Volkes zu sein. Einige sagten: „Ich will nicht allein mit meinen Eltern und meinem Handy zu Hause sitzen.“
Die New Yorkerin Rose, ebenfalls 18 Jahre alt, stammt aus einer orthodoxen Familie und hat sich für ein religiöses Gap-Year-Programm ausschließlich für Mädchen entschieden. „Wir sind 120 Mädchen, die meisten davon aus New York.“Sie belegt Kurse zur Judaistik, lernt Hebräisch und beschäftigt sich mit der Rolle von Frauen im Judentum. Nach wenigen Wochen fand sie sich in der neuen Umgebung zurecht. Sogar eine dreitägige Wanderung quer durch Israel hatte sie geplant. Der 7. Oktober war ein Samstag, was für streng gläubige Juden wie Rose bedeutet, dass sie keine elektronischen Geräte benützen. Daher hatte sie den ganzen Tag keinen Zugang zu Informationen. „Wir wurden morgens von Sirenen geweckt. Ich komme aus New York. Ich höre die ganze Zeit Sirenen. Ich wusste nicht, was das heißt. Ich dachte, dass es in ein oder zwei Minuten aufhören würde.“Die Israelis begriffen den Ernst der Lage schneller als die Amerikaner. 70 Personen versammelten sich im Keller. Es gab eine besonders sichere Ecke im Bunker. Die Gruppe begann die religiösen Feierlichkeiten für Simchat Torah. Sobald sie eine Sirene hörten, stellten sie sich in diese Ecke. Einige Israelis weinten. Dann wurden die ersten Reservisten in die Armee einberufen. Die Zurückgebliebenen versuchten, den Feiertag so gut wie möglich zu gestalten. „Wir haben ganz normal zu Mittag gegessen und Spiele gespielt.“Am Abend wurden sie von einem Rabbiner informiert: „,Israel befindet sich im
Krieg’, sagte er.“Rose verstand die Tragweite der Situation immer noch nicht. „Für mich gibt es ständig Terroranschläge in Israel. Israel befindet sich immer im Krieg.“Erst jetzt holte sie ihr Handy hervor und erfuhr, was passiert war. „Wir haben uns dann alle gegenseitig geholfen.“Auch das Informieren der orthodoxen Eltern in den USA gestaltete sich als schwierig. Roses Eltern halten einen zweitägigen Schabbat ein und wussten selbst am Sonntag noch nicht Bescheid. Rose hinterließ ihnen auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht, dass es ihr gut gehe.
„Willkommen in meiner Generation!“
„Ich dachte nicht daran zu gehen. Hier konnte ich helfen!“, sagt Rose. In Gruppenchats wurden Hilfsaktionen koordiniert. „Wir sortierten Kleidung und spendeten Blut. Wir buken kleine Challah-Brote mit Zetteln: ‚Wir beten für Euch‘, für die Soldaten und ihre Frauen“, erzählt sie stolz. 30 Mädchen und eine Familie aus Sderot, einem Ort, in dem die Hamas Dutzende ermordet hatte, fanden in der Schule Unterschlupf. „Sie sprachen kein Englisch. Ihre Brüder waren in der Armee. Sie versteckten sich während des Terroranschlags und sahen, wie die Terroristen in ihrem Dorf herumliefen. Sie sind sechs Wochen bei uns geblieben.“Noch nie in ihrem Leben habe sie so viele Waffen gesehen wie jetzt in Jerusalem. „Das war ein Kulturschock. Wenn man in New York jemanden mit einer Waffe sieht, rennt man weg. Hier rennt man nicht. Alle sind Soldaten. Die Israelis fühlen sich sicher, wenn sie viele Waffen sehen.“Für sie sei das anders, weil sie Waffen mit Schießereien in Schulen assoziiere.
Mittlerweile ist wieder Routine im Tagesablauf des Programms eingekehrt. „Am Jahresbeginn haben wir uns wie Touristen verhalten. Jetzt sehe ich, wie viel mehr wir an einem Tag bewirken können. Ich helfe im Krankenhaus mit, absolviere eine Ausbildung zur Notfallmedizin und mache EKG für Patienten. “Ihr Jahrgang habe bereits viel erlebt. „In unserer neunten Schulstufe haben wir Covid durchgemacht. Nichts ist normal. Ständig passiert etwas. Willkommen in meiner Generation!“Rose kann sich ihren Lebensmittelpunkt auf Dauer in Israel vorstellen. „Ich will nicht zurück nach Amerika. Als der Krieg ausbrach und sich alle gegenseitig halfen, sind alle Zweifel verschwunden. Hier liegt die Zukunft des jüdischen Volkes.“