Huch, der Sklave spricht!
Percival Everett erzählt die „Abenteuer des Huckleberry Finn“neu. Sehr frei, sehr komisch, sehr politisch und aus der Sicht des Sklaven Jim, der den Weißen gegenüber den tumben Toren gibt.
Die Weißen, muss man sagen, sind schon ein wenig beschränkt. So was kann einem passieren, wenn man sich grundlos überlegen fühlt. Wenn man glaubt, man sei als „Rasse“befugt, über andersfarbige Menschen zu herrschen. Sie zu knechten, zu schinden, zu lynchen. Man sucht dafür dann Ausreden, allein das macht schon dumm. Und man bekommt in seinem Dünkel vieles nicht mit: zum Beispiel, dass der junge Mann namens Jim bzw. James dir gegenüber nur so tut, als beherrsche er die Sprache mangelhaft – und in Wirklichkeit nachts in der Bibliothek Bücher von Voltaire, Locke und Co. verschlingt.
Jim ist in der Sklaverei geboren und aufgewachsen, er „gehört“einem Richter namens Thatcher, in dessen Haus auch Huckleberry Finn Unterschlupf gefunden hat, und auf den ersten Seiten von Percival Everetts gewitztem Buch stellt er sich schlafend, während Huck und Tom Sawyer allerlei Schabernack treiben. In Wirklichkeit ist Jim hellwach und beobachtet alles. Ihm entgeht nichts. Auch sonst nicht. Und so erfährt er rechtzeitig, dass er verkauft werden soll, was bedeutet, dass ihn ein ungewisses Schicksal erwartet und ein Leben ohne Frau und Tochter. Für die hat der neue Besitzer nämlich keine Verwendung.
Jim läuft davon. Nach Norden, wo er frei sein darf und Geld verdienen kann, um seine Lieben auszulösen.
Der Rassismus von Mark Twain
Jim läuft auch im Original davon, in Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“. Dort steht allerdings der ebenfalls fliehende Huck im Mittelpunkt, und Jim ist sein Begleiter. Ein liebenswerter, aber schlichter Begleiter. Er glaubt an wahrsagende Haarkugeln und allerlei Spuk, kann sich nicht vorstellen, dass man in Frankreich kein Englisch spricht, und hält Huck, als er ihm auf seiner Flucht über den Weg läuft, zunächst für einen Geist. Er starrt ihn mit „rollenden Augen“an und ruft: „Nix tun, alte Jim nix tun! Sein nur arme alte Nigger, sein nix bös mit arme Geist! Alte Jim haben immer lieb gehabt arme Geist von tote Mensch. Du gehen wieder in die Wasser, wo du kommen her. Nix tun gute alte Jim, nix tun, Geist von arme Huck, sein immer gewesen deine gute Freund!“
Also, wenn man im 21. Jahrhundert als schwarzer Autor Mark Twains früher gern als antirassistisch gepriesenen Roman liest, kann man schon auf die Idee kommen, einen Gegenentwurf zu schreiben, in dem man sich über die Weißen lustig macht.
Was, muss man sagen, eh noch nett ist: In seinem vorigem Roman, „Die Bäume“, der ebenfalls in den Südstaaten spielt, allerdings in der Gegenwart, ließ Percival Everett ein Lynchopfer wieder auferstehen und als Zombie erst über die Ku-Klux-Klan-Dörfler herfallen und dann über den Rest des rassistischen Amerika. Das war mit seinen detaillierten Beschreibungen immens blutrünstig und überraschend komisch, wenn etwa Donald Trump sich vor lauter Angst unterm Schreibtisch im Oval Office verkriecht und sein Toupet an den alten Kaugummis hängen bleibt, die er unten an die Tischplatte geklebt hat.
Die Rache im neuen Roman fällt weniger heftig aus, auch wenn ein besonders grausamer Aufseher und Vergewaltiger ziemlich langsam erwürgt wird. Und die Komik wirkt subtiler. Vor allem aber ist „James“, ganz wie Mark Twains Vorlage, eine veritable Abenteuergeschichte mit zwei sympathischen Hauptfiguren und allerlei überraschenden Wendungen. Jim und Huck erleben so einiges: Jim wird von einer Klapperschlange gebissen und trifft im Fiebertraum Voltaire, mit dem er über die Gleichheit debattiert. Sie stoßen auf zwei Betrüger, die ihr Geld unter anderem damit machen, Pülverchen zu verkaufen, die Zahnstein entfernen, allerdings die Zähne gleich mit. Sie finden ein Wrack, in dem sich Piraten verschanzt haben, und fliehen mit deren Boot samt Schatz – Schmuck, Kleidung, Zigarren und Bücher, darunter eines von Rousseau.
„Ich wollte unbedingt lesen. Huck schlief zwar, aber ich konnte nicht riskieren, dass er aufwachte und mich mit der Nase in einem aufgeschlagenen Buch ertappte. Dann dachte ich: Woher könnte er denn wissen, dass ich tatsächlich las? Ich könnte einfach behaupten, ich starrte dumm auf die Buchstaben und Wörter und fragte mich, was um alles in der Welt sie bedeuteten. Woher könnte er das wissen? In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen. Wenn ich die Worte sehen konnte, dann konnte niemand sie oder das, was sie mir gaben, kontrollieren. Man könnte nicht einmal wissen, ob ich sie lediglich sah oder ob ich sie las, sie auslotete oder begriff. Es war eine vollkommen private Angelegenheit.“
Nein, Jim kann nicht einmal Huck vertrauen. Jedenfalls noch nicht.
Sie tanzen den Cakewalk
Letztlich ist „James“auch eine Studie über die verschiedenen Abstufungen von Rassismus: Von den blindwütigen Hassern, die ihre Opfer bei lebendigem Leib verbrennen, über jene, die wie der „Besitzer“von Jim darauf stolz sind, dass sie ihre Sklaven eh nur selten mit der Bullenpeitsche schlagen (Jims Vergehen war, ein weißes Mädchen gegrüßt zu haben, und die Narben schmerzen noch immer). Bis zu jenen, die eigentlich eh gegen die Sklavenhaltung sind. Aber eben nur eh. Da gibt es diese groteske Gesangstruppe, deren Mitglieder sich mit angebranntem Kork oder mit Schuhcreme die Gesichter beschmieren (das ist Everetts Kommentar zum Blackfacing) und so zum Gaudium ihres Publikums Lieder intonieren, die angeblich Schwarze geschrieben haben. Dazu geben sie den Cakewalk zum Besten. Das ist ein Tanz, mit dem Sklaven sich eigentlich über das affektierte Verhalten ihrer Herren lustig machten. Cultural Appropriation nennt man das heute, kulturelle Aneignung.
Emmett, der Leiter dieser Truppe, zahlt einem Schmied 200 Dollar, damit er ihm Jim überlässt. Er soll in seiner Truppe singen. Gehört er jetzt ihm? Aber nein!, ruft er. Nur seine Arbeitskraft. Pro Auftritt bekommt er einen Dollar, einen Bruchteil dessen, was die weißen Sänger verdienen. Wenn er alles abgezahlt hat, ist er frei.
Auch ein Rassist. Halt ein verbrämter. Jim wird auch ihm entkommen, das ist so bei Abenteuergeschichten; am Ende gehen sie gut aus, die Gefahren sind überwunden, die Prüfungen sind bestanden, ein Geheimnis ist gelüftet, ein Schatz geborgen, und man kehrt zurück. Stärker. Reifer. Klüger. Und hoffentlich sind auch wir Leser und Leserinnen ein bisschen klüger geworden. In jedem Fall haben wir uns hervorragend unterhalten.