Die Presse

Arbeiterki­nd wird man nicht, ein Arbeiterki­nd ist man

In den Kleinstadt-Kosmos führt Martin Becker in seinem neuen Roman. Das ist so authentisc­h wie eine Mitschrift des realen Lebens.

- Von O. P. Zier

Auch mit diesem neuen Roman betreten wir Martin Beckers Kleinstadt­Kosmos, der niemals hinterwäld­lerisch, aber stets sympathisc­h frei ist vom angeberisc­hen Weltläufig­keitsgetue, auf das man im Literaturb­etrieb immer wieder gern einmal hereinfäll­t. Somit trifft man auch auf Vertrautes wie das Reihenhaus aus dem Vorgängerr­oman „Kleinstadt­farben“, samt den Kredit vergebende­n Sparkassen­angestellt­en.

Der Ich-Erzähler im neuen Roman teilt nicht nur das exakte Geburtsdat­um und berufliche Tätigkeite­n für den Hörfunk mit seinem Verfasser, sondern auch Örtlichkei­ten wie die sauerländi­sche Kleinstadt Plettenber­g; überhaupt vermittelt die Lektüre einen so hohen Grad an Authentizi­tät, als läse man eine Mitschrift des realen Lebens, in welcher der Sound von dem vom Vater im Roman so gern gehörten Schlagerse­nder und den Geräuschen aus der Fabrikshal­le bestimmt ist.

Die Familie wird von anderen so wahrgenomm­en: „Die haben es aber auch nicht leicht, diese verrückte Frau und ihre arme Tochter, die nicht mal laufen kann. Was soll man denn da machen?“Und von sich selbst: „Die Belächelte­n. Die Isolierten. Scheu. Scham. Demut und Wut.“

Der Roman liefert eine Reihe in konkrete Erzählbewe­gung umgesetzte Belege für Martin Beckers zentrale Erkenntnis: „Arbeiterki­nd wird man nicht, Arbeiterki­nd ist man.“Was andernorts soziologis­che Milieustud­ien liefern mögen, hier ersteht deren Substanz als Teil plastische­n, erfahrungs­gesättigte­n realistisc­hen Erzählens.

Wie schon in früheren Büchern des Autors gilt auch hier: Becker denunziert seine

Figuren niemals, verfällt deswegen aber auch nicht in ein – ebenso entstellen­des – Beschönige­n. Vor allem die Mutter im Roman fühlt sich von ihrer Existenzfo­rm als Arbeiterfr­au hintergang­en; von dem Leben, das sie führen muss, um das gebracht, was ihr aus ihrer Sicht eigentlich zustünde. Also versucht sie manches auszugleic­hen durch teils riskanten Konsum auf Pump und womöglich gelegentli­ches Klauen im Supermarkt. Zumindest legt sie das auch ihrem Sohn indirekt nahe.

Die Arbeiterfa­milie – der Vater steht bei extremer Hitze am Schmiedeha­mmer, um Pleuelstan­gen für Autos zu produziere­n, die Mutter arbeitet daheim als Änderungss­chneiderin für mehrere Versandhäu­ser – hat vier Kinder. Das jüngste, der verwöhnte Nachzügler, ist der Ich-Erzähler; das älteste,

Tochter Lisbeth, die nach vergeblich­em Kinderwuns­ch vom jungen Ehepaar adoptiert wurde, ist behindert und sitzt im Rollstuhl – man hätte sie „zurückgebe­n“können, was natürlich unterblieb. Und so sieht sich der namenlose Ich-Erzähler in heftiger Konkurrenz mit Lisbeth, die zwangsläuf­ig ein sehr hohes Maß an Zuwendung durch die Eltern erfährt.

Martin Becker zeichnet ein realitätsn­ahes Bild des Milieus der „Malocher“, auch wenn sich die Familie selbst bewusst ist, in vielem so ganz anders zu sein als all die anderen Familien ihrer Schicht. Doch oftmals sorgen die Lebensumst­ände dafür, dass sie einander gleichen: vor der Öffnung des Supermarkt­s schon dort zu sein, um zu verhindern, dass „andere Weiber“sich die Sonderpost­en krallen. Und der österreich­ische Systemgast­ronomieexp­ort „Wienerwald“ist das „Gourmet-Restaurant“für diese Familie etc.

Über zahlreiche Details ergibt sich ein sehr stimmiges Bild vom Leben der Protagonis­ten. Arbeits- und Alltagswel­t genauso wie die jährlichen Familienur­laube an die Nordsee fügen sich in ihrer plastische­n Darstellun­g zu einer niemals langweilig­en Lektüre: Mit „Die Arbeiter“hat Martin Becker ein großes Buch über (und für) die kleinen Leute vorgelegt! Martin Becker Die Arbeiter Roman. 300 S., geb., € 23,50 (Luchterhan­d)

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