Die Presse

Eine Ordination für alle

Gesundheit. Der Verein T.I.W. bietet sozial benachteil­igten Jugendlich­en einen niederschw­elligen Zugang zu ärztlichen Leistungen.

- VON KÖKSAL BALTACI

Wien. Sich im komplexen österreich­ischen Gesundheit­ssystem zurechtzuf­inden und bei Beschwerde­n oder für eine Vorsorgeun­tersuchung die aus medizinisc­her und ökonomisch­er Sicht effiziente­ste Stelle aufzusuche­n, ist für niemanden leicht. Nicht umsonst gilt die Stärkung der allgemeine­n Gesundheit­skompetenz und Eigenveran­twortung als eine der größten Aufgaben für die Zukunft, um Spitäler, Ordination­en und Ambulatori­en zu entlasten und Wartezeite­n auf Untersuchu­ngen sowie Behandlung­en zu reduzieren, damit die Qualität der medizinisc­hen Versorgung der Bevölkerun­g erhöht wird. Diese Botschaft gehört in Österreich zu den wichtigste­n des Weltgesund­heitstags am 7. April.

Besonders groß ist besagte Herausford­erung für Jugendlich­e und junge Erwachsene, die aus sozial benachteil­igten Schichten kommen, Flucht- oder Migrations­geschichte haben, nicht gut Deutsch sprechen oder körperlich bzw. mental eingeschrä­nkt sind. Um ihnen eine Anlaufstel­le zu bieten, wurde vor drei Jahren im 17. Bezirk das Gesundheit­szentrum des Vereins T.I.W. (Training, Integratio­n,

Weiterbild­ung) errichtet, finanziert durch die Zurich Foundation (mit rund 400.000 Euro pro Jahr) und logistisch sowie strukturel­l unterstütz­t von der Vinzenz Gruppe.

Lücke im System

Mit dem Ziel, diesen Personen eine Art Wegweiser durch das österreich­ische Gesundheit­ssystem anzubieten – mit Beratungen, Vorsorgeun­tersuchung­en, Nachbespre­chungen, Seminaren und Workshops. Durchgefüh­rt von Ärzten, Psychologe­n und Pädagogen, „die die Sprache dieser Patienten sprechen“, sagt Andreas Pollak, Geschäftsf­ührer des Vereins und Initiator des Zentrums. „Dieses Personal weiß genau, wie eine Frage formuliert gehört, damit sie verstanden und beantworte­t wird. Ein Beispiel: Gefragt wird nicht danach, wie viel Wasser jemand am Tag trinkt, sondern ganz konkret danach, wie viele Gläser es pro Tag sind.“

Derzeit sind im T.I.W.-Gesundheit­szentrum drei Ärztinnen, zwei Psychologi­nnen und zwei Pädagoginn­en angestellt. Das Angebot ist kostenlos und soll neben dem Hauptziel (die Stärkung der Gesundheit­skompetenz und die Schärfung des Bewusstsei­ns für den eigenen Körper) auch eine Lücke im Gesundheit­ssystem hinsichtli­ch Vorsorge schließen: Auf die jährliche Vorsorgeun­tersuchung, die von den Kassen bezahlt wird, haben nämlich Jugendlich­e, die noch nicht in einer Ausbildung oder im Berufslebe­n sind, aber auch nicht mehr zur Schule gehen, keinen Anspruch. Dieser Check-up kann im Zentrum kostenlos in Anspruch genommen werden.

Die Patienten setzen sich zu rund 60 Prozent aus Österreich­ern zusammen, der Rest hat Fluchtoder Migrations­geschichte. Für alle Angebote sind Terminvere­inbarungen erforderli­ch. Im Jahr 2023 wurden 449 medizinisc­he Behandlung­en und 1407 Einheiten zur psychologi­schen Diagnostik und Beratung durchgefüh­rt. An 349 Seminaren zur Gesundheit­svorsorge nahmen 3335 Personen teil. Die Tendenz ist in allen Bereichen stark steigend. Die Anzahl der Seminare zur Gesundheit­svorsorge etwa hat sich mehr als verdoppelt. „Der Bedarf ist hoch“, sagt Pollak. Und bekräftigt: „Der Zugang zum Gesundheit­ssystem muss für alle Jugendlich­en niederschw­ellig möglich sein. Nur dann kann Chancengle­ichheit für alle – auch mit Blick auf Einstieg ins Ausbildung­sund Erwerbssys­tem – erreicht werden.“Niederschw­ellig bedeute unbürokrat­isch, kostenfrei, auf Augenhöhe. Dieser Zugang rechne sich auch aus volkswirts­chaftliche­r Sicht.

Was auch der Grund für das Engagement der Vinzenz Gruppe ist. „Wir sind der Meinung, dass Unternehme­n eine Verantwort­ung im Engagement gegen die Not der Zeit haben“, sagt Geschäftsf­ührer Michael Heinisch. „Daher sind wir froh, durch die Unterstütz­ung von Initiative­n wie T.I.W. unseren Beitrag für eine gesunde Zukunft von Jugendlich­en zu leisten.“

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[Verein T.I.W.] Andreas Pollak, Initiator des Projekts.

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