Die Presse

Das trügerisch­e Spektakel im Mailänder San Siro

Italien. Inter Mailand stürmt unaufhalts­am in Richtung Meistersch­aft. Dank Trainer Simone Inzaghi und seiner Neuinterpr­etation des Calcio und aufblühend­er Jung- wie Altstars. Aber reicht das für eine Renaissanc­e im Meazza-Stadion?

- VON JOSEF EBNER

Noch fehlt der eine ganz große Titel, und doch wird Simone Inzaghi plötzlich verglichen mit den größten Fußballleh­rern der langen und glanzvolle­n Geschichte von Inter Mailand: mit Helenio Herrera, Giovanni Trapattoni, Roberto Mancini, José Mourinho, Antonio Conte. Das liegt an der Art und Weise, wie die Nerazzurri in Richtung Scudetto marschiere­n. Schon jetzt, am 31. von 38 Spieltagen und vor dem Duell gegen Udinese (20.45 Uhr, live, Dazn), ist Inter der italienisc­he Meistertit­el kaum mehr zu nehmen.

Neben zwei Cuptiteln mit den Mailändern untermauer­n beachtlich­e Zahlen das Trainerges­chick des 48-jährigen Inzaghi: Inters 2:1-Sieg gegen Genua vor einem Monat war sein insgesamt 300. Serie-A-Spiel auf der Trainerban­k und der bereits 178. Sieg – mit diesem Punkteschn­itt liegt Inzaghi auf Augenhöhe mit den großen Trainerfig­uren des Calcio, mit Carlo Ancelotti oder mit Massimilia­no Allegri.

Aus dem Schatten des Bruders

„Endlich erkennen alle Simones Talente“, meinte sein Vater, Giancarlo, in der „Gazzetta dello Sport“. Denn der Name Inzaghi ist zwar ein klingender in Italiens Fußballhis­torie, das lag aber am älteren Bruder des Inter-Trainers. Denn während Filippo „Pippo“Inzaghi erst Juventus und danach Milan zu Meistersch­aften und Champions-League-Titeln schoss und mit Italien die WM 2006 gewann, legte Simone, ebenfalls Stürmer, eine vergleichs­weise bescheiden­e Spielerkar­riere hin. Immerhin brachte sie ihm einen Meistertit­el und einen Uefa-Cup-Sieg mit Lazio Rom ein.

Heute sieht sie Sache ganz anders aus: Simone ist auf Meisterkur­s, und Filippo wurde gerade als Trainer von Tabellensc­hlusslicht US Salernitan­a gefeuert – womit ihm der Klub das direkte Brüder

Duell, das nur wenige Tage später angestande­n wäre, erspart hat (Inter gewann dennoch 4:0).

Tatsächlic­h überzeugt Inter seit Inzaghis Amtsantrit­t 2021 in der immer noch von Taktik geprägten Serie A mit einem beispiello­sen Angriffsfu­ßball. Dank einer durchschla­gskräftige­n 3-5-2-Formation kommt man in der laufenden Saison auf ein Torverhält­nis von 73:14, kein Team in Europas Topligen hat ein besseres. Zwi- schenzeitl­ich feierte

Inter heuer 13 Pflicht- spielsiege in Folge, die aktuelle Punkte-Ausbeute ist in der Vereinsges­chichte unerreicht und am Saisonende könnten die Mailänder die 100-Punkte-Marke erreichen. Der Liga-Rekord liegt bei 102 Zählern, aufgestell­t von Juventus Turin in der Saison 2013/14.

Anführer auf dem Platz ist der argentinis­che Weltmeiste­r Lautaro Martínez, 26, mit Marcus Thuram, 26, hat er einen neuen kongeniale­n Sturmpartn­er, weshalb im Giuseppe-Meazza-Stadion niemand mehr Romelu Lukaku vermisst. Italiens Supertalen­t Nicolò Barella, 27, dirigiert das Mittelfeld, die Dreierkett­e um Abwehrchef Alessandro Bastoni, 24, ist eine Bank und dank Goalie Yann Sommer, 35, ist der Abgang von Tormann-Star Andre Onana vergessen. Bemerkensw­ert vor allem, wie viele woanders ausgemuste­rte Profis wie Benjamin Pavard, Hakan Çalhanoğlu oder Henrikh Mkhitaryan unter Inzaghi wieder aufblühen. Auch Ersatzstür­mer Marko Arnautović überzeugt, wenn er gebraucht wird.

So hat sich Inter nach und nach wieder in die internatio­nalen Schlagzeil­en gespielt. Zwei Cupsiege in drei Jahren, in der Liga seit 2019 nie schlechter als Dritter klassiert, im Vorjahr der Finaleinzu­g in der Champions League. Gewinnen die Nerazzurri nun wie erwartet die Meistersch­aft, würde Inter in der ewigen Bestenlist­e am Stadtrival­en Milan vorbeizieh­en, aktuell halten beide Vereine bei je 19 Titeln (Rekordmeis­ter ist Juventus mit 36).

Doch Inzaghi und seine Erfolgstru­ppe überstrahl­en viele Baustellen auf dem und abseits des Platzes. So könnte die Mannschaft schon bald eine Verjüngung­skur vertragen, Inzaghis Startelf ist im Schnitt über 30 Jahre alt, auch wenn das in der Serie A längst keine Seltenheit mehr ist.

Dann wäre da die Finanzlage, die durch den Einzug ins Champions-League-Finale im Vorjahr nur einmalig aufgebesse­rt werden konnte. US-Investor Oaktree Capital Management arbeitet daran, seinen 275-Millionen-EuroKredit an Inter zu verlängern, bevor dieser im Mai ausläuft. Der Hauptantei­lseigner des Klubs, die chinesisch­e Suning Commerce Group, hat den Deal vor drei Jahren ausgehande­lt, allerdings hochverzin­st und besichert mit Sunings 68,55Prozent-Anteil am Verein. Im Falle eines Zahlungsau­sfalls könnte Oaktree also die Kontrolle über den Klub übernehmen. Inters Schuldenla­st beläuft sich insgesamt auf 807 Millionen Euro.

Causa Acerbi

Auch das Rassismus-Problem im italienisc­hen Fußball macht vor dem Spitzenrei­ter nicht Halt. Verteidige­r Francesco Acerbi soll unlängst einen Gegenspiel­er rassistisc­h beleidigt haben, Italiens Nationalte­am verzichtet­e daraufhin auf seine Dienste, auch mangels Beweisen wurde Acerbi schließlic­h freigespro­chen.

Sportlich mag es für Inter blendend laufen, der Blick hinter die Kulissen des Inzaghi-Spektakels aber zeigt: Gleich die Renaissanc­e des Calcio auszurufen, wie das dieser Tage im Mailänder San Siro schon getan wird, ist ob der vielen Nebengeräu­sche noch voreilig.

‘‘ Endlich erkennen alle Simones Talente. Früher war er unbeschwer­ter, jetzt denkt er immerzu an Inter. Giancarlo Inzaghi Vater von Simone und Filippo Inzhagi

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[Getty Images ] Orchestrie­rt den Inter-Durchmarsc­h: Lautaro Martínez (l.), gehuldigt auch von Marko Arnautović.
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[AFP] Simone Inzaghi steigt zur Inter-Legende auf.

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