Die Presse

Dem Rat von Bürgerinne­n und Bürgern eine Chance geben

Gastbeitra­g. Um der grassieren­den Polarisier­ung gegenzuste­uern, sollte Österreich seine Superkraft nutzen – die seiner Bürger.

- VON IEVA ČESNULAITY­TĖ

Weltweit haben in den vergangene­n zehn Jahren Bürgerräte an Bedeutung gewonnen. Wie eine kürzlich erschienen­e Studie der OECD zeigt, können sie viele der zugrundeli­egenden Treiber für Polarisier­ung, Populismus und demokratis­chen Rückschrit­t adressiere­n.

In einer Zeit, in der Regierungs­systeme es versäumen, einige der drängendst­en gesellscha­ftlichen Probleme anzugehen und das Vertrauen zwischen Bürgerinne­n und Bürgern einerseits und Regierung anderersei­ts schwindet, verkörpern diese neuen Institutio­nen das Potenzial einer demokratis­chen Erneuerung.

Bürgerräte sind demokratis­che Räume für normale, per Los ausgewählt­e Bürgerinne­n und Bürger, in denen diese sich mit der Komplexitä­t politische­r Fragen auseinande­rsetzen, einander zuhören und gemeinsame Lösungen finden. Die Räte geben den Menschen ein Mitsprache­recht bei Entscheidu­ngen, die ihr Leben beeinfluss­en, bekämpfen Gefühle von Machtlosig­keit, stärken das Vertrauen und führen zu besseren politische­n Entscheidu­ngen.

Österreich geht voran

Österreich hat in diesem Bereich stillschwe­igend eine Führungsro­lle eingenomme­n. Eine Datenbank der OECD hat 46 Bürgervers­ammlungen, -panels und -räte in Österreich seit 2003 dokumentie­rt. Von lokalen über regionale bis hin zu nationalen Beispielen haben österreich­ische Bürgerinne­n und Bürger, die per Los ausgewählt wurden und einen gesellscha­ftlichen Querschnit­t repräsenti­eren, über Fragen des Klimas, der Stadtplanu­ng, des Verkehrs, der Gesundheit, der Kultur und mehr beraten und Empfehlung­en an Regierunge­n abgegeben. Und es hört nicht bei der Regierung auf.

Anfang des Jahres startete die österreich­ische Erbin Marlene Engelhorn eine Initiative, bei der eine zufällig ausgewählt­e Gruppe von Bürgerinne­n und Bürgern entscheide­n sollte, wie sie die von ihrer Großmutter geerbten 25 Millionen Euro verteilen sollte.

Bürgervers­ammlungen sind sehr erfolgreic­h bei der Bewältigun­g von politische­n Problemen und wurden im Lauf der Jahre mit komplexen Fragen betraut. 2023 wurden in Frankreich 185 per Los ausgewählt­e Personen aus dem ganzen Land einberufen, um darüber zu beraten, ob das Land seine bestehende Gesetzgebu­ng zu Sterbehilf­e und dem Lebensende ändern soll, und wenn ja, wie. Nach 27 Tagen Beratung über vier Monate erzielten sie für 67 Empfehlung­en Übereinsti­mmungsrate­n von 92 Prozent. In Irland sind Bürgerräte in den vergangene­n zehn Jahren auf nationaler Ebene gängige Praxis geworden.

Abbau von Spannungen

Da Spaltung und Polarisier­ung im Zuge der bevorstehe­nden Nationalra­tswahlen im Herbst zunehmen dürften, können Räte das richtige Instrument sein, um Spannungen abzubauen. Durch die Einrichtun­g von Bürgervers­ammlungen zu Fragen, die die Menschen beschäftig­en, können Regierunge­n Möglichkei­ten schaffen, sich konstrukti­v mit Problemen auseinande­rzusetzen, durchdacht­e Urteile zu fördern und einen breiteren gesellscha­ftlichen Konsens zu ermögliche­n. Dadurch wird die Möglichkei­t verringert, dass heikle Themen politisch genutzt werden, um soziale Spaltungen zu vertiefen.

Um die Vorteile der Beratschla­gung über einmalige Ad-hocVersamm­lungen hinaus auszuweite­n, könnte man einen Weg der kontinuier­lichen Einbindung von Bürgerinne­n und Bürgern auf nationaler Ebene in Betracht ziehen.

Dauerhafte Bürgerräte sind bereits in Paris, Brüssel und Vorarlberg eingericht­et.

Internatio­nal ist Vorarlberg für sein Modell der systematis­chen Einbettung von Bürgerbete­iligung bekannt. 1000 Unterschri­ften rufen einen Beirat zu einem von Bürgerinne­n und Bürgern selbst gewählten Thema ins Leben und ermögliche­n den Beginn eines informiert­en Beratungsp­rozesses zu brennenden Fragen. Vorarlberg spielt mit diesem Modell weltweit eine Vorreiterr­olle.

Mehr als 700 Beispiele von Versammlun­gen haben reichlich Beweise dafür geliefert, dass beratschla­gende Demokratie funktionie­rt, wenn Prozesse gut gestaltet sind. Wie bei Wahlen und anderen demokratis­chen Abläufen wissen wir, dass bestimmte Rahmenbedi­ngungen und Gestaltung­skriterien erfüllt sein müssen, dass diese wirklich effektiv, demokratis­ch und legitim sind.

Eine Vision für Veränderun­g

Entscheidu­ngsträger und Entscheidu­ngsträgeri­nnen müssen ihrerseits gewillt sein, auf die Empfehlung­en der Bürgerinne­n und Bürger zu reagieren und sie umzusetzen. Das Losverfahr­en muss sicherstel­len, dass jeder die gleiche Chance hat, ausgewählt zu werden. Auch ist ausreichen­d Zeit – normalerwe­ise mindestens vier bis fünf Tage – erforderli­ch, damit die Menschen ein komplexes Thema verstehen und gemeinsam Lösungen entwickeln können.

Da Mitglieder von Bürgervers­ammlungen den zusätzlich­en Vorteil haben, nicht gewählt oder wiedergewä­hlt werden zu müssen, haben sie die Freiheit, das Gemeinwohl an erste Stelle zu setzen. Sie bringen auch zum Ausdruck, dass jeder von uns gleicherma­ßen würdig und in der Lage ist, an der Gestaltung der Entscheidu­ngen, die unser Leben beeinfluss­en, beteiligt zu sein.

Eine Vision für Veränderun­g und eine hoffnungsv­ollere demokratis­che Zukunft in Österreich existiert und hat bereits Wurzeln geschlagen. Wir müssen ihr nur eine Chance geben.

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