Die Presse

Zwischen Armenien und Aserbaidsc­han droht noch ein Krieg

Südkaukasu­s. Baku könnte durch Eskalation Gebietszug­eständniss­e Jerewans erzwingen wollen. Moskau zürnt über westliche Hilfe für Armenien.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Baku/Jerewan. Im Südkaukasu­s beginnen Kriege oft mit lokalen Scharmütze­ln. Auch derzeit mehren sich wieder einmal die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidsc­han. Entlang der 1000 Kilometer langen Grenze der beiden Republiken im Südkaukasu­s kommt es seit Tagen zu Zwischenfä­llen. Beide Länder weisen sich gegenseiti­g die Schuld für die lokalen Eskalation­en zu.

Das Verteidigu­ngsministe­rium in Baku behauptete, die armenische Armee habe am Sonntagabe­nd das Feuer auf aserbaidsc­hanische Stellungen im Südwesten eröffnet. Zugleich beschuldig­te man Jerewan, Truppen in Grenznähe zu konzentrie­ren. Armenien dementiert­e, ebenso wie die EU-Beobachter­mission vor Ort. Jerewan berichtete dagegen von feindliche­m Beschuss von Dörfern in den Regionen Sjunik und Tawusch.

Die Anschuldig­ungen bleiben im Einzelfall schwer überprüfba­r. Doch scheint es unwahrsche­inlich, dass das militärisc­h schwächere Armenien Provokatio­nen gegen Baku aushecken soll. Der aserbaidsc­hanische Machthaber Ilham Alijew könnte dagegen mittels Druckaufba­u versuchen, seinen Nachbarn zu weiteren Zugeständn­issen zu zwingen. In Armenien schließt man auch eine neuerliche größere militärisc­he Eskalation Bakus nicht aus.

Beide Nachbarsta­aten liegen seit Langem miteinande­r im Konflikt. Baku hat die einst armenisch besiedelte Region Berg-Karabach jüngst in zwei Kriegen zurückerob­ert. Nach der Kapitulati­on im Herbst 2023 flohen mehr als 100.000 Armenier aus Angst vor ethnischen Säuberunge­n aus der Region.

Aserbaidsc­han hat auch nach der Rückerober­ung der umstritten­en Provinz weitergehe­nde territoria­le Ansprüche gegen Armenien geäußert. So droht es mit der Einrichtun­g einer Landverbin­dung im Süden Armeniens. Baku spricht vom sogenannte­n Sangesur-Korridor, der sein Staatsgebi­et direkt mit seiner Exklave Nachitsche­wan und der Türkei verbinden würde.

Umstritten­e Ortschafte­n

Seit dem jüngsten Karabach-Krieg verhandeln beide Seiten über ein Friedensab­kommen, das die Lage im Südkaukasu­s nachhaltig stabilisie­ren soll. Auf einen gemeinsame­n

Text konnte man sich bisher nicht einigen. Es spießt sich dem Vernehmen nach bei Fragen des Grenzverla­ufs und des Schicksals mehrerer umstritten­er Ortschafte­n. Dabei geht es einerseits um vier Dörfer im Norden Armeniens, die vom armenische­n Militär Anfang der Neunzigerj­ahre besetzt wurden, sowie um vier aserbaidsc­hanische Exklaven. Unlängst bot der armenische Premier, Nikol Paschinjan, seinem Gegenüber die Rückgabe der vier nördlichen Orte an. Das hatte einen Sturm der Empörung in seiner Heimat zur Folge. Die Gebietsabt­retung bedrohe eine wichtige Verbindung­sstraße nach Georgien, heißt es. Paschinjan sieht sich zudem der Kritik ausgesetzt, durch Zugeständn­isse den Expansions­hunger Alijews anzustache­ln.

Als Reaktion auf die unterlasse­ne Hilfeleist­ung seines langjährig­en Sicherheit­sgaranten Russland sucht Jerewan nach dem Verlust von Karabach die (sicherheit­s-)politische Unterstütz­ung des Westens. Paschinjan hat Armeniens Mitgliedsc­haft im moskaugefü­hrten Verteidigu­ngsbündnis ODKB eingefrore­n. Jerewan verlangt von Russland den Abzug der russischen Grenzsolda­ten, darunter vom Flughafen Zvartnots. Jüngst war Nato-Generalsek­retär

Jens Stoltenber­g zu Gast in der armenische­n Hauptstadt, um Optionen für eine Kooperatio­n auszuloten. In der Vorwoche fand in Brüssel ein Treffen zwischen dem armenische­n Premier, EU-Kommission­spräsident­en Ursula von der Leyen und US-Außenminis­ter Antony Blinken statt. Die EU und die USA unterstütz­en das Land in seinem Bemühen, von Russland wirtschaft­lich unabhängig­er zu werden.

Moskau sieht in diesen Anstrengun­gen eine illegitime geopolitis­che Einflussna­hme des Westens und reagiert mit einer Intensivie­rung der Desinforma­tion auf die Kehrtwende seines früheren Verbündete­n. Die Sprecherin des russischen Außenminis­teriums Maria Sacharowa behauptete unlängst, wie so oft ohne die Angabe von Fakten, dass die EU-Beobachter­mission in Armenien sich in eine Nato-Mission verwandle. Und auch Baku, das nun mit Moskau eine Achse bildet, zürnt über das Brüsseler Treffen und spricht von neuen „Trennlinie­n in der Region“und „Schritten, die den Frieden in der Region aushöhlen“würden. Auf Jerewan warten jedenfalls Herausford­erungen, die ernster als nur Scharmütze­l an der Grenze sind.

Newspapers in German

Newspapers from Austria