„Wir können uns nur auf uns selbst verlassen“
Nach Dammbrüchen am Fluss Ural herrscht in mehreren Regionen Hochwasser. Betroffene werfen Behörden Untätigkeit vor.
Als das Wasser bis zur Türschwelle ihres Hauses am Rande von Orsk angestiegen war, gab Ljubow nach. Ihre Tochter brachte die 93-Jährige in ihre Wohnung in einem mehrstöckigen Haus auf einer Anhöhe. „Hier ist zum Glück kein Wasser“, erzählt sie am Telefon. Nur einige Kilometer weiter versinkt die knapp 200.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu Kasachstan, etwa 1700 Kilometer östlich von Moskau, seit Tagen in den Fluten. Mehrere Bezirke sind überschwemmt, weil der Damm, der die Stadt vor dem Hochwasser des Flusses Ural schützen sollte, an mehreren Stellen gebrochen war. Fast 7000 Häuser sind betroffen, auf Videos aus der Stadt sind von manchen von ihnen lediglich die Dächer zu sehen.
Der Ural, der die einstige Industriestadt Orsk in Europa und Asien teilt, ist in dieser Region ein mäandernder Fluss. Einer, der immer wieder über seine Ufer tritt und vor allem die Altstadt der hügeligen Stadt in der Steppe unter Wasser setzt. Die Menschen hier sind Überschwemmungen im Frühling gewohnt, doch solche Ausmaße hatte niemand erwartet.
Es sei das schlimmste Hochwasser seit 100 Jahren, heißt es bei der Stadt. Der Ural war auf elf Meter angestiegen, der kritische Wert liegt bei neun Metern. Den Höchststand erwarten Beobachter für den 10. April. Mittlerweile steht auch die Orsker Neustadt mit ihren Plattenbauten unter Wasser, und auch die Regionalhauptstadt Orenburg, etwa 300 Kilometer westlich, ist betroffen. Nur 15 Kilometer von Orsk entfernt verläuft die Grenze zu Kasachstan. Hierher waren viele Russen nach Putins ausgerufener „militärischer Spezialoperation“in der Ukraine geflohen, um nicht zum Töten eingezogen zu werden. Seit Wochen hatte die kasachische Regierung die Lage an den Flüssen beobachtet, 72.000 Menschen sollen aus Nordkasachstan evakuiert worden sein.
Putin schweigt zur Katastrophe
Die Orsker sind derweil wütend auf ihre Verwaltung. Noch in der vergangenen Woche hatte sich Wassili Kosupiza, der Bürgermeister der Stadt, bei der Begutachtung des Damms gelassen gegeben. „Derzeit besteht keine Bedrohung. Die Menschen haben keine Angst, dass sie überschwemmt werden könnten. Das diesjährige Hochwasser ist der erste Test für die Stärke des Damms“, hatte er gesagt. Nicht einmal zwei Tage später war der Damm gebrochen.
Russlands Präsident Wladimir Putin äußerte sich nicht zu der Überschwemmung. Es ist das übliche Vorgehen des 71-Jährigen, der – sei es bei Unglücken, Terroranschlägen oder Naturkatastrophen – erst einmal abwartet. Bei den Menschen bleibt dabei das bittere Gefühl zurück, sie seien dem Staat „wie immer egal“. Der Katastrophenschutzminister Alexander Kurenkow, den Putin in die Stadt schickte, sagte im Staatsfernsehen: „Die Evakuierung war vor einer Woche ausgerufen worden, die Leute nahmen die Aufrufe nicht ernst, sie dachten, es sei ein Witz.“
Wut auf Bürgermeister wächst
Solche Sätze empören die Orsker: „Jetzt sind wir auch noch selbst schuld! Am Ende sagen sie noch, die Ukrainer hätten den Damm zerstört, zusammen mit Bidens Hilfe. Das sind doch die plattesten Erklärungen dieser Tage!“, heißt es in einem Chat. „Uns lässt man wie so oft allein mit unserem Leid“, sagt eine 51-Jährige aus dem Stadtteil „Erster Mai“, der in Orsk liebevoll „Maika“genannt wird.
Es sind vor allem die Maika-Bewohner, die die Hilfe der Stadtverwaltung vermissen. „In unserem Stadtteil gab es keine Sirenen, keine Aufrufe, die Häuser zu verlassen. Den Wasserstand messen wir selbst. Bis heute haben wir kein Gas, die Brotregale in den Geschäften sind leer“, erzählt die Frau, die mit ihrem Teenagersohn in Maika lebt. In Chats posten die Orsker Bilder aus den überfluteten Straßen, bieten freie Zimmer an, schreiben, wo es frisches Wasser gibt – und lassen ihrer Wut freien Lauf. „Der Bürgermeister muss weg!“, steht da. „Wofür zahle ich meine Steuern? Um mit allem, was ich habe, abzusaufen, während er sagt, alles sei unter Kontrolle?“