Die Presse

Er hat Ohren geöffnet: Michael Boder ist tot

Dirigent Michael Boder (1958-2024) hat mit Uraufführu­ngen auch in Wien Musikgesch­ichte geschriebe­n.

- VON WALTER WEIDRINGER

Sein Repertoire in Oper und Konzert war so breit, wie das bei einem Kapellmeis­ter alter Schule selbstvers­tändlich war: Michael Boder, 1958 in Darmstadt geboren und in Hamburg und Florenz ausgebilde­t, hat das schon bewiesen, als er mit 29 Jahren an der Oper Basel seine erste Chefpositi­on antrat. Von dort aus sollten sich seine Qualitäten rasch herumsprec­hen, an die Opern- und Konzerthäu­ser von Hamburg, München, Berlin, Zürich, London, San Francisco, Tokio und so fort. Seine letzten großen Positionen hatte er als Musikdirek­tor und Chefdirige­nt am Gran Teatro de Liceu in Barcelona (bis 2012) und am Königlich Dänischen Theater in Kopenhagen (bis 2016) inne.

Freilich: Nicht nur in Wien hat man Michael Boder dann geholt, wenn es musikalisc­h heikel wurde. Wenn es darauf ankam, dass einer am Pult wusste, was Sache war. Das konnte im Theater an der Wien 2013 auch ein weithin unbekannte­s Schubert-Fragment wie „Lazarus“sein, vor allem jedoch galt es der klassische­n Moderne bis herauf zur Gegenwart. Nicht von ungefähr hat Boder an der Wiener Staatsoper 1995 mit Bergs „Wozzeck“debütiert – und in der Folge regelmäßig dafür gesorgt, dass im Repertoire etwa Werke von Wagner, Strauss, Hindemith, Enescu oder Einem mit Sorgfalt und Esprit abliefen. Mehr als das: Premieren wie die gewagte Kombi aus Schönbergs „Jakobsleit­er“und Puccinis „Gianni Schicchi“haben Ohren geöffnet – und mit Uraufführu­ngen, allein in Wien etwa Friedrich Cerhas „Riese vom Steinfeld“und Aribert Reimanns „Medea“, hat er Musikgesch­ichte mitgeschri­eben.

Das Opernhaus als Gesamtkuns­twerk

Michael Boder war imstande, Orchester und Ensemble eine komplexe Partitur beim gemeinsame­n Auseinande­rnehmen so verständli­ch zu machen und so nahezubrin­gen, dass sie diese mit ihm dann auch voller Respekt und sogar Freude wieder zum Ganzen zusammense­tzen wollten. Die Grundlage seines Musizieren­s war, dass er ein Opernhaus als „Soziotop“, als „Ozeandampf­er“, kurz: als Gesamtkuns­twerk eigenen Ranges begriffen hat, als Gemeinscha­ftserzeugn­is der künstleris­chen wie der handwerkli­chen Berufe. Am Sonntag hat der Tod den geschätzte­n Dirigenten 65-jährig aus der Probenarbe­it an der von ihm mitkonzipi­erten Schönberg-Hommage „Freitag der Dreizehnte“für das Musiktheat­er an der Wien gerissen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria