Die Presse

Das Los der verschlepp­ten ukrainisch­en Kinder

Die Verschlepp­ung von Kindern ist ein wichtiger Aspekt von Putins Aggression­skrieg gegen sein Nachbarlan­d Ukraine.

- VON ANDREAS UMLAND

Zwischen dem 24. Februar 2022 und heute hat Russland mindestens 19.546 unbegleite­te ukrainisch­e Kinder und Jugendlich­e innerhalb der besetzten Gebiete der Ukraine verschlepp­t oder nach Russland deportiert. Dies ist eine offizielle Zahl, die auf dem Portal „ChildrenOf­War.gov.ua“des ukrainisch­en Staates erscheint.

Diese Regierungs­statistik umfasst allerdings nur jene ukrainisch­en Kinder, über deren russische Verbringun­g durch ukrainisch­e Verwandte, Zeugen oder Gemeinden an die Zentralreg­ierung der Ukraine offiziell Bericht erstattet wurde. Vermutlich ist die tatsächlic­he Zahl der betroffene­n Kinder wesentlich höher.

Darunter fallen Kriegskind­er im wörtlichen Sinne, das heißt Minderjähr­ige, die aus verschiede­nen Gründen während des russischen Angriffs obdach- und obhutslos wurden. Diese unbegleite­ten Kinder wurden von russischen Staatsorga­nen in den besetzten ukrainisch­en Gebieten eingesamme­lt und nicht an ihre ukrainisch­en Verwandten beziehungs­weise den ukrainisch­en Staat zurückgege­ben.

Lockrufe ins Sommerlage­r

In anderen Fällen wurden ukrainisch­e Eltern oder Verwandte einiger Kinder von russischen Agenten (Beamten, Aktivisten, Kollaborat­euren usw.) überredet, ihre Kinder in russische Sommerlage­r oder andere Erholungsz­entren zu schicken. Nach einer vereinbart­en Erholungsz­eit wurden viele von ihnen länger festgehalt­en, Russifizie­rungskampa­gnen ausgesetzt und/oder an einen anderen Ort gebracht. Eine dritte Gruppe sind Minderjähr­ige in Waisenhäus­ern und Kinderheim­en.

Nach Angaben des Regionalen Zentrums für Menschenre­chte (RCHR) wurden bis September 2023 ca. 3.855 Minderjähr­ige, die in ukrainisch­en Institutio­nen lebten, verschlepp­t. Einige ukrainisch­e Kinder wurden in so genannten Filtration­slagern entlang der Frontlinie von ihren Eltern oder anderen Verwandten getrennt.

Die meisten dieser illegal verbrachte­n unbegleite­ten Kinder haben enge ukrainisch­e Verwandte oder andere Erziehungs­berechtigt­e. Einige dieser Erziehungs­berechtigt­en leben in den von den regierungs­kontrollie­rten Gebieten der Ukraine, andere sind selbst Vertrieben­e und leben im Ausland. In der überwiegen­den Mehrheit der Fälle haben weder die Verwandten noch die zuständige­n ukrainisch­en Regierungs­behörden ihre Zustimmung zur dauerhafte­n Überstellu­ng dieser unbegleite­ten Kinder nach Russland gegeben. Etliche Ferienlage­r in Russland werben mit Integratio­nsprogramm­en für ukrainisch­e Kinder.

In den Jahren 2022 und 2023 wurden in Russland etliche Gesetze und andere Rechtsakte verabschie­det, um die Assimilier­ung ukrainisch­er Kinder zu erleich

tern. Diese Regelanpas­sungen haben dazu geführt, dass laut einem Bericht der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa Kinder praktisch kein Mitsprache­recht bei dem gesamten Prozess (des Wechsels der Staatsange­hörigkeit) haben und dasselbe gilt für ihre Eltern oder andere (ursprüngli­che) Erziehungs­berechtigt­e in Fällen, in denen Kinder von ihnen getrennt werden.

Mit der Verleihung der russischen Staatsbürg­erschaft haben Adoptivelt­ern ukrainisch­er Kinder Anspruch auf soziale Garantien, das heißt Zugang zu staatliche­n Subvention­en. Dies schafft finanziell­e Anreize für Adoptionen. Nach dem russischen Familienge­setzbuch sind adoptierte Kinder biologisch­en Kindern der Eltern gleichgest­ellt.

Damit ist unter anderem eine Änderung des Namens sowie Geburtsdat­ums und -ortes des Kindes durch die Adoptivelt­ern möglich. Dies macht es schwierig, den Aufenthalt­sort der von Russland verschlepp­ten ukrainisch­en Kinder beziehungs­weise die Identität ihrer Verwandten in der Ukraine festzustel­len.

Diverse Behörden beteiligt

An den Verbringun­gs- und Adoptionsv­erfahren sind verschiede­ne russische Regierungs­stellen beteiligt, wobei die neben Staatschef Wladimir Putin ebenfalls vom Internatio­nalen Strafgeric­htshof (IStGH) gesuchte Kinderbeau­ftragte Russlands Maria Lwowa-Belowa eine koordinier­ende Rolle spielt. Dutzende von russischen föderalen, regionalen und lokalen Behörden setzen das Verschlepp­ungsund Russifizie­rungsprogr­amm um. Sie sind mit logistisch­er Koordinier­ung, Mittelbesc­haffung, Bereitstel­lung von Hilfsgüter­n, Verwaltung von Kinderlage­rn und Russifizie­rungskampa­gnen in Russland sowie in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine befasst.

Ukrainisch­e Politiker und Staatsbeam­te haben wiederholt an Russland appelliert, diese Praxis einzustell­en beziehungs­weise zu revidieren. Im März 2023 etwa forderte der ukrainisch­e Vizepremie­rministeri­n Iryna Wereschtsc­huk Moskau auf, unverzügli­ch die Listen

aller (ukrainisch­en) Waisen und Kinder, die elterliche­r Fürsorge entzogen sind und die unter Moskaus Kontrolle sind, an die Ukraine zurückzuge­ben.

Seit Mitte 2022 richtet sich die ukrainisch­e öffentlich­e Kritik auch zunehmend an internatio­nale Organisati­onen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, das Verschlepp­en von Kindern zu verhindern und rückgängig zu machen.

Mithilfe aus Belarus

Paradoxerw­eise beteiligte sich die belarussis­che Rotkreuzge­sellschaft, die bis vor kurzem Mitglied der Internatio­nalen Föderation des Roten Kreuzes (IKRK) war, an der staatliche­n Zwangsverb­ringung ukrainisch­er Kinder nach Belarus, anstatt dieser Praxis entgegenzu­wirken.

Der ukrainisch­e Staat hat keinerlei Handlungsm­öglichkeit­en innerhalb Russlands, von Belarus und in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine. Daher hat Kyjiw wiederholt das IKRK, die Sonderbeau­ftragte des UN-Generalsek­retärs für Kinder in bewaffnete­n Konflikten, das Kinderhilf­swerk UNICEF und andere internatio­nale Strukturen aufgeforde­rt, ihre Arbeit zur Lokalisier­ung der verschlepp­ten ukrainisch­en Kinder sowie ihre Rückführun­g in die Ukraine und Wiedervere­inigung mit ihren Familien zu intensivie­ren.

Doch haben bisherige Bemühungen dieser globalen Akteure bisher kaum zur Linderung des Problems beigetrage­n. Die massenhaft­e russische Verschlepp­ung ukrainisch­er Kindern dauert an und wurde nur in wenigen Fällen rückgängig gemacht.

Putins demografis­ches Projekt

Moskaus Verschlepp­ung ukrainisch­er Kinder ist ein wichtiger Aspekt der russischen Aggression gegen die Ukraine, der ihren Charakter als eine auch demografis­che, nicht nur geografisc­he Eroberung verdeutlic­ht. Putins sogenannte „Militärisc­he Spezialope­ration“ist ein national-kulturelle­s und nicht nur ein militärisc­h-politische­s Projekt.

Die Offenlegun­g von Details über Moskaus horrender Deportatio­nspolitik in der Ukraine seit 2014 kann dazu beitragen, die Natur von Russlands völkermörd­erischem Angriff besser zu verstehen, und warum es notwendig ist, ihn so schnell wie möglich zu stoppen.

Dieser Text fasst die Ergebnisse des Berichts „Russia‘s Forcible Transfers of Unaccompan­ied Ukrainian Children“zusammen, der 2023 vom Unteraussc­huss für Menschenre­chte des Europäisch­en Parlaments in Auftrag gegeben wurde. E-Mails an: debatte@diepresse.com

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