Die Presse

Das Vielerlei der Leitkultur

Seit über zwei Jahrzehnte­n ist es nicht gelungen, greifbar zu machen, was mit Leitkultur eigentlich gemeint ist.

- VON RENÉ RUSCH René Rusch (*1976) ist Politikwis­senschaftl­er und TV-Regisseur. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Nur 24 Jahre nachdem in Deutschlan­d erstmals eine breitere Debatte über die Leitkultur angestoßen worden ist, entdeckt die ÖVP den Begriff für sich. Hans Winkler, Mitglied des Leitkultur-Expertenra­ts, hat für die „Presse“in seiner Kolumne „Déjà vu“(2. 4.) eine Verteidigu­ng des „Reizworts“verfasst: „Einwanderu­ngsgesells­chaften müssen sich darüber klar werden, was sie verbindet.“Die gemeinsame Wertebasis Leitkultur zu nennen ist „angemessen und berechtigt“. Winklers Plädoyer kann nur zustimmen, wer den jahrzehnte­währenden deutschen Leitkultur­diskurs komplett ignoriert. Bereits 2000, als Friedrich Merz den Begriff lancierte, hagelte es Kritik. Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrat­s der Juden, mahnte: „Meine Damen und Herren Politiker, überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln!“

Das Muster der wiederkehr­enden Leitkultur­debatten ist seitdem unveränder­t: Ein Politiker greift den Begriff auf, es folgt eine kurze Debatte, danach verschwind­et die Leitkultur wieder in der Versenkung. Wirklich überzeugt scheint in Deutschlan­d heute nur die AfD den Begriff zu vertreten: Im Grundsatzp­rogramm findet sich ein eigenes Unterkapit­el, Björn Höcke verfasste 2018 ein 74-seitiges Werbeprosp­ekt für „Leitkultur, Identität, Patriotism­us“. Erstere solle als Staatsziel ins Grundgeset­z aufgenomme­n werden.

Rechte Schlagseit­e

Klar ist: Leitkultur hat sich als reaktionär­er Kampfbegri­ff etabliert und wird allgemein auch so verstanden. Wer Leitkultur heute in den Mittelpunk­t einer Kampagne setzt, antizipier­t die Aufregung, die folgen wird. Eine produktive, lösungsori­entierte Debatte ist damit nicht zu haben.

Dass sich der Begriff weiterhin nicht durchsetze­n wird, liegt aber nicht allein an dessen hart rechter Schlagseit­e: In über zwei Jahrzehnte­n ist es nie gelungen, die Leitkultur greifbar zu machen. Beliebte Übersetzun­gen wie Grundkonse­ns, Spielregel­n oder Hausordnun­g sind viel zu vage – zumal es dezidiert um mehr als Verfassung­streue gehen soll, wie auch Winkler hervorhebt.

Das gleiche Drehbuch

Leitkultur­definition­en erschöpfen sich in der willkürlic­hen Aufzählung von gesellscha­ftlichen Idealen, politische­n Errungensc­haften und Benimmrege­ln: Demokratie, Menschenre­chte, Religionsf­reiheit, Gleichbere­chtigung, Tradition, Lebensweis­e, zur Begrüßung die Hand geben, das christlich-jüdische Erbe etc.

Wie aus diesem Durcheinan­der etwas abgeleitet werden soll, an das sich alle anpassen müssen, ist bis heute rätselhaft. Den grundsätzl­ichen Widerspruc­h, dass es in einer offenen Gesellscha­ft keine Über- und Unterordnu­ng verschiede­ner Haltungen und Lebensweis­en geben kann, wird auch Susanne Raabs Expertenru­nde nicht lösen.

Letzten Endes ist es irrelevant, wie praktikabe­l eine Definition ausfallen mag. Denn jenen, die die Leitkultur forcieren, geht es nicht darum, Einigkeit zu stiften. Das zur Schau getragene Pathos, die verbindend­en Worte vom „Fundament unseres Zusammenle­bens“oder „gelebten Grundkonse­ns“sind unehrlich. Beispielha­ft das Vorgehen von Deutschlan­ds Ex-Innenminis­ter Thomas de Maizière, der 2017 die letzte größere Debatte zum Thema anstieß: Leitkultur definierte er salbungsvo­ll als das, „was uns im Innersten zusammenhä­lt“; seinen Zehn-Punkte-Katalog betitelte er mit „Wir sind nicht Burka“. In Österreich spielen wir 2024 nach dem gleichen Drehbuch. Ministerin Raab betont, sie wolle „sicherstel­len, dass es kein Neben-, sondern ein Miteinande­r gibt“. Die parallel gestartete Social-Media-Kampagne verkündet: „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!“

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