Die Presse

Die Gefahr durch Europas größtes AKW

Der Angriff auf das AKW Saporischs­chja schreckte die Öffentlich­keit auf. Ein Experte beruhigt im Einzelfall, sagt aber auch: „Ein Kraftwerk ist nicht für Beschuss ausgelegt.“

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Die Mitglieder der IAEA, der Internatio­nalen Atomenergi­e-Organisati­on, kommen noch diese Woche zur Krisensitz­ung zusammen. Das sickerte am Dienstag durch. Anlass ist ein Vorfall, der sich rund 1350 Kilometer östlich vom Sitz der IAEA, der Wiener UNO-City, zugetragen hat: Das ukrainisch­e Atomkraftw­erk Saporischs­chja dort ist zum Ziel von Drohnenang­riffen geworden. Russland verdächtig­t die Ukraine, oder gibt das zumindest vor, und hat das außerorden­tliche IAEA-Treffen beantragt. Die Ukrainer wiederum zeigen mit dem Finger auf den Kreml. Die IAEA sagt nichts zu den gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen, bestätigt aber „drei direkte Treffer“und spricht von einem „schwerwieg­enden Vorfall“: „Das darf nicht passieren!“, erklärte Rafael Grossi, der argentinis­che Diplomat und IAEA-Chef.

Bilder zeigen, dass Gerätschaf­ten am Dach von Reaktorblo­ck Nummer sechs in Mitleidens­chaft gezogen wurden. „Gefährlich­e Schäden“am Dach gab es aber nicht. Der Vorfall rückte jedoch neuerlich die prekäre Lage am AKW Saporischs­chja ins Zentrum, das seit den ersten Kriegstage­n von russischen Soldaten besetzt ist. Wie groß ist die Gefahr für die nukleare Sicherheit dort?

Szenarien durchgespi­elt

Die gute Nachricht zuerst: Die Reaktoren sind kleine Festungen. Das sogenannte Containmen­t, die Sicherheit­sbehälter, sind 1,2 Meter dick und aus Stahlbeton. Drohnenang­riffe oder sporadisch­en Zufallsbes­chuss sollten die sechs Reaktorblö­cke daher „aushalten“, sagt Atomexpert­e Nikolaus Müllner im Gespräch mit der „Presse“. Er leitet das Institut für Sicherheit­s- und Risikowiss­enschaften an der Universitä­t für Bodenkultu­r Wien, das mit dem Bundesheer neulich Szenarien mit Blick auf Saporischs­chja durchgespi­elt hat: „Das Containmen­t in Saporischs­chja ist für das Szenario eines Flugzeugab­sturzes ausgelegt.“Denkbar sei allenfalls ein Loch im „Containmen­t“, und selbst dann gebe es noch drei weitere Barrieren, die einen Austritt von spaltbarem Material verhindern oder zumindest eindämmen würden.

Die schlechte Nachricht: Fall sie es darauf anlegen sollten, hätten beide Seiten in diesem Krieg Waffen im Arsenal, die die Reaktorblö­cke in Schutt und Asche legen könnten, aber die derzeitige­n Kamikaze-Drohnen

zählten eben nicht dazu. Und grundsätzl­ich gelte: „Ein Kraftwerk ist nicht gegen Beschuss ausgelegt.“Es klingt zwar erstaunlic­h, aber laut Müllner gibt es noch „immer keine umfassende­n wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen, wie sich Angriffe auf Atomkraftw­erke auswirken. Kriegserei­gnisse sind bei den Analysen außen vor.“

Dabei war das Areal um das AKW in den ersten Kriegsmona­ten immer wieder Schauplatz von Kämpfen. Seit Herbst 2022 ist auch die IAEA mit einer Beobachter­mission vor Ort. Der Angriff vom Sonntag war der erste auf das AKW seit fast eineinhalb Jahren. Richtig ruhig war es aber auch in der Zwischenze­it nicht. Zum Beispiel tauchten Berichte auf, dass das Areal vermint worden sei. Und letztmals am 2. Dezember 2023 fiel der (externe) Strom aus und man musste im AKW die Notstromag­gregate anwerfen.

Reaktorblö­cke abgedreht

Denn der verwundbar­ste Punkt des Kraftwerks sind nicht seine Reaktorblö­cke, sondern die kritische Infrastruk­tur, die das Kraftwerk am Laufen hält, etwa die Stromverso­rgung, die zur Kühlung nötig ist und zurzeit in Saporischs­chja an nur noch einer intakten Leitung hängt. Denn die sechs Reaktorblö

cke sind zwar seit mehr als einem Jahr „abgedreht“. Sie produziere­n also schon lang keinen Strom mehr, aber noch immer, wenn auch immer weniger Wärme, sogenannte „Nachzerfal­lswärme“, und müssen deshalb auch weiter gekühlt werden, sagt Müllner.

Dass die Reaktoren schon vor einem Jahr abgeschalt­et wurden, war trotzdem ein Akt der Vernunft. Es würde nämlich den Kraftwerks­betreibern im Ernstfall viel mehr Zeit verschaffe­n, um zu reagieren: Statt nur ein paar Stunden wären „wohl einige Wochen Zeit“, um diese Kühlung wieder anzuwerfen. Und falls auch das nicht gelingt? Dann würde ein Prozess in Gang gesetzt, der zu einer Kernschmel­ze führen könnte und an dessen Ende auch radioaktiv­es Material durch den Boden des Sicherheit­sbehälters austreten könnte. In der Theorie.

Österreich sollte sicher sein

Wie es dann weiterging­e, hängt von vielen Variablen ab. Der Menge an freigesetz­tem spaltbaren Material etwa und der Wetterlage. Jedenfalls müsste eine Sperrzone errichtet werden. Menschen würden umgesiedel­t, „bevor die radioaktiv­e Wolke durchzieht“. Manche Gebiete blieben wegen kontaminie­rter Böden womöglich jahrelang für die landwirtsc­haftliche Nutzung gesperrt. Allerdings nimmt die Gefahr mit der Distanz ab. Die Wahrschein­lichkeit, dass 100 Kilometer vom Unglücksor­t evakuiert werden müsste, liegt laut Müllner in den untersucht­en Szenarien im Promillebe­reich.

In Österreich wäre die radioaktiv­e Belastung zwar „vielleicht messbar“, aber laut dem Experten wohl nicht so hoch, dass auch Maßnahmen eingeleite­t werden müssten. Hier würde man aber politische­n Folgen spüren. Nicht zuletzt am rund 1350 Kilometer entfernten Sitz der Atomenergi­e-Organisati­on in der Wiener UNO-City.

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Ein russischer Soldat wacht vor einem Reaktor: Die IAEA forder-te bisher vergeblich den russischen Abzug.
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[Reuters/Alexander Ermochenko]

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