Die Gefahr durch Europas größtes AKW
Der Angriff auf das AKW Saporischschja schreckte die Öffentlichkeit auf. Ein Experte beruhigt im Einzelfall, sagt aber auch: „Ein Kraftwerk ist nicht für Beschuss ausgelegt.“
Die Mitglieder der IAEA, der Internationalen Atomenergie-Organisation, kommen noch diese Woche zur Krisensitzung zusammen. Das sickerte am Dienstag durch. Anlass ist ein Vorfall, der sich rund 1350 Kilometer östlich vom Sitz der IAEA, der Wiener UNO-City, zugetragen hat: Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja dort ist zum Ziel von Drohnenangriffen geworden. Russland verdächtigt die Ukraine, oder gibt das zumindest vor, und hat das außerordentliche IAEA-Treffen beantragt. Die Ukrainer wiederum zeigen mit dem Finger auf den Kreml. Die IAEA sagt nichts zu den gegenseitigen Schuldzuweisungen, bestätigt aber „drei direkte Treffer“und spricht von einem „schwerwiegenden Vorfall“: „Das darf nicht passieren!“, erklärte Rafael Grossi, der argentinische Diplomat und IAEA-Chef.
Bilder zeigen, dass Gerätschaften am Dach von Reaktorblock Nummer sechs in Mitleidenschaft gezogen wurden. „Gefährliche Schäden“am Dach gab es aber nicht. Der Vorfall rückte jedoch neuerlich die prekäre Lage am AKW Saporischschja ins Zentrum, das seit den ersten Kriegstagen von russischen Soldaten besetzt ist. Wie groß ist die Gefahr für die nukleare Sicherheit dort?
Szenarien durchgespielt
Die gute Nachricht zuerst: Die Reaktoren sind kleine Festungen. Das sogenannte Containment, die Sicherheitsbehälter, sind 1,2 Meter dick und aus Stahlbeton. Drohnenangriffe oder sporadischen Zufallsbeschuss sollten die sechs Reaktorblöcke daher „aushalten“, sagt Atomexperte Nikolaus Müllner im Gespräch mit der „Presse“. Er leitet das Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften an der Universität für Bodenkultur Wien, das mit dem Bundesheer neulich Szenarien mit Blick auf Saporischschja durchgespielt hat: „Das Containment in Saporischschja ist für das Szenario eines Flugzeugabsturzes ausgelegt.“Denkbar sei allenfalls ein Loch im „Containment“, und selbst dann gebe es noch drei weitere Barrieren, die einen Austritt von spaltbarem Material verhindern oder zumindest eindämmen würden.
Die schlechte Nachricht: Fall sie es darauf anlegen sollten, hätten beide Seiten in diesem Krieg Waffen im Arsenal, die die Reaktorblöcke in Schutt und Asche legen könnten, aber die derzeitigen Kamikaze-Drohnen
zählten eben nicht dazu. Und grundsätzlich gelte: „Ein Kraftwerk ist nicht gegen Beschuss ausgelegt.“Es klingt zwar erstaunlich, aber laut Müllner gibt es noch „immer keine umfassenden wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sich Angriffe auf Atomkraftwerke auswirken. Kriegsereignisse sind bei den Analysen außen vor.“
Dabei war das Areal um das AKW in den ersten Kriegsmonaten immer wieder Schauplatz von Kämpfen. Seit Herbst 2022 ist auch die IAEA mit einer Beobachtermission vor Ort. Der Angriff vom Sonntag war der erste auf das AKW seit fast eineinhalb Jahren. Richtig ruhig war es aber auch in der Zwischenzeit nicht. Zum Beispiel tauchten Berichte auf, dass das Areal vermint worden sei. Und letztmals am 2. Dezember 2023 fiel der (externe) Strom aus und man musste im AKW die Notstromaggregate anwerfen.
Reaktorblöcke abgedreht
Denn der verwundbarste Punkt des Kraftwerks sind nicht seine Reaktorblöcke, sondern die kritische Infrastruktur, die das Kraftwerk am Laufen hält, etwa die Stromversorgung, die zur Kühlung nötig ist und zurzeit in Saporischschja an nur noch einer intakten Leitung hängt. Denn die sechs Reaktorblö
cke sind zwar seit mehr als einem Jahr „abgedreht“. Sie produzieren also schon lang keinen Strom mehr, aber noch immer, wenn auch immer weniger Wärme, sogenannte „Nachzerfallswärme“, und müssen deshalb auch weiter gekühlt werden, sagt Müllner.
Dass die Reaktoren schon vor einem Jahr abgeschaltet wurden, war trotzdem ein Akt der Vernunft. Es würde nämlich den Kraftwerksbetreibern im Ernstfall viel mehr Zeit verschaffen, um zu reagieren: Statt nur ein paar Stunden wären „wohl einige Wochen Zeit“, um diese Kühlung wieder anzuwerfen. Und falls auch das nicht gelingt? Dann würde ein Prozess in Gang gesetzt, der zu einer Kernschmelze führen könnte und an dessen Ende auch radioaktives Material durch den Boden des Sicherheitsbehälters austreten könnte. In der Theorie.
Österreich sollte sicher sein
Wie es dann weiterginge, hängt von vielen Variablen ab. Der Menge an freigesetztem spaltbaren Material etwa und der Wetterlage. Jedenfalls müsste eine Sperrzone errichtet werden. Menschen würden umgesiedelt, „bevor die radioaktive Wolke durchzieht“. Manche Gebiete blieben wegen kontaminierter Böden womöglich jahrelang für die landwirtschaftliche Nutzung gesperrt. Allerdings nimmt die Gefahr mit der Distanz ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass 100 Kilometer vom Unglücksort evakuiert werden müsste, liegt laut Müllner in den untersuchten Szenarien im Promillebereich.
In Österreich wäre die radioaktive Belastung zwar „vielleicht messbar“, aber laut dem Experten wohl nicht so hoch, dass auch Maßnahmen eingeleitet werden müssten. Hier würde man aber politischen Folgen spüren. Nicht zuletzt am rund 1350 Kilometer entfernten Sitz der Atomenergie-Organisation in der Wiener UNO-City.