Die Presse

Russlands Flutkatast­rophe zeigt Arroganz der Mächtigen

Nach dem Dammbruch am Ural verlangen die Menschen Antworten. Doch der Gouverneur weist jegliche Verantwort­ung von sich.

- Proteste. Von unserer Korrespond­entin INNA HARTWICH

Während das Wasser noch in den Straßen von Orsk steht und sich nur langsam zurückzieh­t, versammeln sich mehrere Hundert Menschen am Montagaben­d vor der Verwaltung der Stadt. Eine Lenin-Statue thront vor dem Theater hinter ihnen, die Tram ruckelt am Platz der Komsomolze­n vorbei. Hierher hat es der Ural nicht geschafft, der einige Kilometer weiter wegen eines mehrfachen Dammbruchs knapp 7000 Häuser in dieser Industries­tadt an der Grenze zu Kasachstan überschwem­mt hatte.

„Wir wollen nur eines wissen: Was wird aus unseren Häusern? Was wird aus uns?“, schreit eine Frau fast. „Wie sollen wir weiterlebe­n? Wer übernimmt die Verantwort­ung?“, fragt ein Mann. Sie sind wütend, weil sie sich auf sich allein gestellt fühlen. Die Behörden hatten die Menschen gewarnt, bloß nicht bei einer „nicht sanktionie­rten Versammlun­g“mitzumache­n. Vor dem ansteigend­en Wasser des Urals warnten sie die Menschen dagegen zu spät. Es ist dieser Unmut, der die Orsker auf die Straße treibt, in einem Land, in dem Demonstrie­ren gefährlich ist und Fragen unerwünsch­t sind.

Versagen der Behörden

Die Frauen und Männer umkreisen Wassili Kosupiza, wollen Antworten von ihrem Bürgermeis­ter. Er war es, der sie noch am vergangene­n Mittwoch völlig gelassen zur Ruhe bringen wollte. Der Damm werde schon halten, es gebe keine Gefahr, hatte dieser gesagt. Keine zwei Tage später stand die Altstadt von Orsk komplett unter Wasser.

Kosupiza kommt bei diesem spontanen Protest kaum zu Wort. Antworten kann er nicht liefern. „Verschwind­e“, schreien die Menschen. „Tritt ab!“, „Schande!“. Orsk ist eine politisch verschlafe­ne Stadt. Wenn

hier Menschen auf die Straße gehen, dann sind es keine Forderunge­n nach mehr Freiheiten und Menschenre­chten, es geht ihnen schlicht ums Überleben. Es geht um Wasser und Brot, um Gas und um Strom. Es geht um ein Dach über dem Kopf – und doch auch um etwas Politische­s: Die Verantwort­ung dafür, dass hier trotz Bedenken, auch aus dem benachbart­en Kasachstan, offensicht­lich vieles schiefgela­ufen ist. Deshalb fordern sie den Rücktritt ihres Bürgermeis­ters. Die Mächtigen aber sind in der Kommunikat­ion mit den Menschen kaum geübt.

Alltäglich­e Bagatellis­ierung der Sorgen

Wie losgelöst sie von den Problemen des aufgebrach­ten Volks sind, zeigt sich auch in Orsk, als Denis Pasler, der Gouverneur des Gebietes Orenburg, zu einigen Demonstran­ten spricht. „Das sind halt die Bedingunge­n, unter denen wir leben. Es gab den Herbst, den Winter, den Regen und jede Menge anderer Faktoren“, sagt er in der Orsker Stadtverwa­ltung. Eine „unkontroll­ierbare Horde“aber wolle „einen einzigen Verantwort­lichen finden“, meint er. Diesen „einzigen“werde es nicht geben. „Wir sind alle schuld. Jetzt sollten wir uns als echte Patrioten vereinen, das überstehen und als stärker Gewordene da rausgehen.“

Es sind anmaßende, ja verächtlic­he Floskeln, die weder Verständni­s noch Mitgefühl für das Leid der Menschen ausdrücken. Pasler

schaut starr ins Gesicht der Notleidend­en und sagt herablasse­nd: „Glaubt ihr, ihr seid die einzigen, die darunter leiden? Ich habe meinen ersten Urlaub seit fünf Jahren nicht angetreten, bin hier bei euch, hatte keine Zeit, mich zu waschen, mich umzuziehen. Der ganzen Region geht es nicht gut.“

Entwertung und Bagatellis­ierung der Sorgen von anderen sind alltäglich in Russland. Eine Schuld will niemand eingestehe­n, aber einen Schuldigen finden will jeder. Pasler verspricht, dass „alles wiederherg­estellt“werde, sagt, Kompensati­onen würden ausgezahlt. Was seine Sätze allerdings für jeden einzelnen bedeuten, wird keinem klar. „Wo liegen denn diese Listen auf, von denen sie alle sprechen? Wo kann ich mich eintragen, damit ich wenigstens die 50.000 Rubel (umgerechne­t 500 Euro) für mein verlorenes Vermögen bekomme. Ich werde von einer Notunterku­nft zur nächsten geschickt“, schreibt eine Julia in einem Orsker Chat.

Rekord-Pegelständ­e in Orenburg

Die Wasserpege­l steigen derweil weiter. Nun nicht mehr in Orsk, sondern weiter westlich. Das Wasser zieht in die Gebietshau­ptstadt Orenburg, dort wird es voraussich­tlich am Mittwoch den Höhepunkt erreichen. Auch die Regionen Kurgan und Tjumen rechnen mit Rekord-Pegelständ­en. Der Bürgermeis­ter sagt seinen Einwohnern immerhin deutlich: „Es wird so schlimm wie nie.“

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