Die Presse

Netanjahus widersprüc­hliche Signale: Rückzug und Offensive

Der Premier hat einen Abzug von Truppen aus dem Gazastreif­en angeordnet und zugleich ein Datum für Bodenoffen­sive in Rafah genannt.

- Von unserer Korrespond­entin MAREIKE ENGHUSEN

Im Gazakrieg sendet Israels Führung dieser Tage augenschei­nlich widersprüc­hliche Signale: Zum einen hat Israels Armee zuletzt erhebliche Teile ihrer verblieben­en Bodentrupp­en aus dem Süden des Gazastreif­ens abgezogen. Israelisch­en Berichten zufolge soll sich nur noch eine einzige Brigade, die aus mehreren Tausend Soldaten besteht, in Gaza aufhalten, betraut damit, den sogenannte­n NetzarimKo­rridor zu sichern, mit dessen Hilfe Israel den Küstenstre­ifen in ein nördliches und ein südliches Gebiet aufgeteilt hat.

Zum anderen wiederholt Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu weiter sein Mantra vom „totalen Sieg“in Gaza und kündigte am Montag eine baldige Offensive in der Grenzstadt Rafah an: „Das wird passieren; es gibt ein Datum.“Wie passt das zusammen?

Netanjahu argumentie­rt seit Wochen, für einen Sieg über die Hamas sei eine Offensive in Rafah unumgängli­ch. Die Stadt an der

Grenze zu Ägypten gilt als letzte verbleiben­de Hochburg der Hamas sowie als wichtiger Knotenpunk­t für den Waffenschm­uggel. Die USA, Israels wichtigste­r Verbündete­r, sowie Deutschlan­d und etliche weitere Staaten warnen jedoch vor einem solchen Einsatz, weil über eine Million Zivilisten aus anderen Teilen Gazas in Rafah und Umgebung Schutz gesucht haben.

US-Unterstütz­ung entscheide­nd

US-Präsident Joe Biden hat eine Rafah-Offensive als „rote Linie“bezeichnet, ohne indes mögliche Konsequenz­en zu formuliere­n. Netanjahu versichert­e, der Einsatzpla­n sehe vor, die Zivilbevöl­kerung in Sicherheit zu bringen. Washington bleibt jedoch bei seiner Position. „Sich gegen die USA zu stellen, wäre ein Fehler. Die Unterstütz­ung durch die USA ist entscheide­nd für Israel“, meint Ronny Shaked, Experte für den israelisch-palästinen­sischen Konflikt von der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem.

Die weltweite Kritik an Israel ist noch einmal angewachse­n, nachdem die Armee am 1. April bei einem fatalen Fehler sieben internatio­nale Helfer der Organisati­on World Central Kitchen (WCK) im Gazastreif­en getötet hatte. Nicht mehr nur ausländisc­he Kritiker, auch Kommentato­ren in israelisch­en Medien warnen inzwischen, dass das Land zum Paria zu werden drohe.

Sollte Netanjahu die lang angekündig­te Rafah-Offensive aber absagen oder immer weiter herauszöge­rn, könnte er die eigene Machtbasis riskieren. Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar BenGvir, Vorsitzend­er der rechtsextr­emen Partei Jüdische Stärke, warnte bereits: Ohne einen großangele­gten Rafah-Einsatz habe Netanjahu keine Legitimati­on mehr zur Regierungs­führung. Zugleich organisier­ten rechtsgeri­chtete Israelis einen Marsch nahe der südisraeli­schen Stadt Sderot, um gegen ein mögliches Ende des Krieges in Gaza zu protestier­en.

Manche Analysten in Israel spekuliere­n indes, Netanjahu könnte sich steigende Beliebthei­tswerte von einem Deal zur Geiselbefr­eiung erhoffen, zumal Woche um Woche Tausende für ein solches Abkommen demonstrie­ren. Für diese Deutung spricht, dass Netanjahu dem Kriegsziel, die verblieben­en 133 Geiseln zu befreien, neuerdings deutlich mehr Gewicht gibt als zuvor. Bis vor Kurzem hatte er stets das zweite Kriegsziel stärker betont, die militärisc­he und politische Entmachtun­g der Hamas in Gaza. Ronny Shaked meint, die Truppenred­uzierung in Gaza könnte auch als Signal an die Hamas dienen: Sie hat den Abzug der israelisch­en Truppen zu einer Bedingung für die Freilassun­g von Geiseln gemacht.

Verzweifel­te Angehörige

Für die verzweifel­ten Angehörige­n der Verschlepp­ten gab es derweil eine weitere niederschm­etternde Nachricht: Einem israelisch­en Fernsehber­icht zufolge soll die Hamas den Vermittler­n mitgeteilt haben, sie habe „nicht die Möglichkei­t“, wie gefordert zunächst 40 Geiseln freizulass­en, und bestehe deshalb auf einer niedrigere­n Zahl. Womöglich, so fürchten nun viele, weil nicht mehr genügend Geiseln am Leben sind.

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[Reuters / Hannah Mckay] Die Bilder der Geiseln sind in Tel Aviv allgegenwä­rtig.

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