Netanjahus widersprüchliche Signale: Rückzug und Offensive
Der Premier hat einen Abzug von Truppen aus dem Gazastreifen angeordnet und zugleich ein Datum für Bodenoffensive in Rafah genannt.
Im Gazakrieg sendet Israels Führung dieser Tage augenscheinlich widersprüchliche Signale: Zum einen hat Israels Armee zuletzt erhebliche Teile ihrer verbliebenen Bodentruppen aus dem Süden des Gazastreifens abgezogen. Israelischen Berichten zufolge soll sich nur noch eine einzige Brigade, die aus mehreren Tausend Soldaten besteht, in Gaza aufhalten, betraut damit, den sogenannten NetzarimKorridor zu sichern, mit dessen Hilfe Israel den Küstenstreifen in ein nördliches und ein südliches Gebiet aufgeteilt hat.
Zum anderen wiederholt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weiter sein Mantra vom „totalen Sieg“in Gaza und kündigte am Montag eine baldige Offensive in der Grenzstadt Rafah an: „Das wird passieren; es gibt ein Datum.“Wie passt das zusammen?
Netanjahu argumentiert seit Wochen, für einen Sieg über die Hamas sei eine Offensive in Rafah unumgänglich. Die Stadt an der
Grenze zu Ägypten gilt als letzte verbleibende Hochburg der Hamas sowie als wichtiger Knotenpunkt für den Waffenschmuggel. Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, sowie Deutschland und etliche weitere Staaten warnen jedoch vor einem solchen Einsatz, weil über eine Million Zivilisten aus anderen Teilen Gazas in Rafah und Umgebung Schutz gesucht haben.
US-Unterstützung entscheidend
US-Präsident Joe Biden hat eine Rafah-Offensive als „rote Linie“bezeichnet, ohne indes mögliche Konsequenzen zu formulieren. Netanjahu versicherte, der Einsatzplan sehe vor, die Zivilbevölkerung in Sicherheit zu bringen. Washington bleibt jedoch bei seiner Position. „Sich gegen die USA zu stellen, wäre ein Fehler. Die Unterstützung durch die USA ist entscheidend für Israel“, meint Ronny Shaked, Experte für den israelisch-palästinensischen Konflikt von der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Die weltweite Kritik an Israel ist noch einmal angewachsen, nachdem die Armee am 1. April bei einem fatalen Fehler sieben internationale Helfer der Organisation World Central Kitchen (WCK) im Gazastreifen getötet hatte. Nicht mehr nur ausländische Kritiker, auch Kommentatoren in israelischen Medien warnen inzwischen, dass das Land zum Paria zu werden drohe.
Sollte Netanjahu die lang angekündigte Rafah-Offensive aber absagen oder immer weiter herauszögern, könnte er die eigene Machtbasis riskieren. Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar BenGvir, Vorsitzender der rechtsextremen Partei Jüdische Stärke, warnte bereits: Ohne einen großangelegten Rafah-Einsatz habe Netanjahu keine Legitimation mehr zur Regierungsführung. Zugleich organisierten rechtsgerichtete Israelis einen Marsch nahe der südisraelischen Stadt Sderot, um gegen ein mögliches Ende des Krieges in Gaza zu protestieren.
Manche Analysten in Israel spekulieren indes, Netanjahu könnte sich steigende Beliebtheitswerte von einem Deal zur Geiselbefreiung erhoffen, zumal Woche um Woche Tausende für ein solches Abkommen demonstrieren. Für diese Deutung spricht, dass Netanjahu dem Kriegsziel, die verbliebenen 133 Geiseln zu befreien, neuerdings deutlich mehr Gewicht gibt als zuvor. Bis vor Kurzem hatte er stets das zweite Kriegsziel stärker betont, die militärische und politische Entmachtung der Hamas in Gaza. Ronny Shaked meint, die Truppenreduzierung in Gaza könnte auch als Signal an die Hamas dienen: Sie hat den Abzug der israelischen Truppen zu einer Bedingung für die Freilassung von Geiseln gemacht.
Verzweifelte Angehörige
Für die verzweifelten Angehörigen der Verschleppten gab es derweil eine weitere niederschmetternde Nachricht: Einem israelischen Fernsehbericht zufolge soll die Hamas den Vermittlern mitgeteilt haben, sie habe „nicht die Möglichkeit“, wie gefordert zunächst 40 Geiseln freizulassen, und bestehe deshalb auf einer niedrigeren Zahl. Womöglich, so fürchten nun viele, weil nicht mehr genügend Geiseln am Leben sind.