Klimaschutz ist ein Menschenrecht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verpflichtet erstmals Staaten, ihre Bürger besser vor der Erderwärmung zu schützen. Ist das ein Wendepunkt in der Klimapolitik?
Die Schweizer Klimaseniorinnen haben es geschafft: Zum ersten Mal hat ein europäisches Höchstgericht einer Klimaklage stattgegeben und so den Staaten direkt die Pflicht auferlegt, ihre Bürgerinnen und Bürger besser als bisher vor den Folgen der Erderhitzung zu schützen. Die Schweiz habe „nicht zeitgerecht und angemessen“auf den Klimawandel reagiert und durch das Verfehlen von Zielen zur Emissionsreduktion „einige Menschenrechte“der Klägerinnen verletzt, schreibt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Urteilsverkündung. Zwei weitere, ähnlich gelagerte Fälle wies der EGMR zurück.
Befürworter feierten das Urteil schon vor dessen Verkündung als „historische“Wende im Kampf gegen den Klimawandel. Endlich könnten Regierungen zu einer ehrgeizigeren Klimapolitik gezwungen werden. Aber wie weitreichend sind die Folgen tatsächlich?
Richter schauen genau hin
Der EGMR urteilte am Dienstag über drei Klagen, die unterschiedlichen europäischen Staaten Versagen im Kampf gegen die Erderwärmung vorgeworfen hatten: Letztlich erfolgreich war eine Gruppe von 2000 Schweizer Pensionistinnen. Sie argumentierten, dass ihre Gesundheit aufgrund ihres Alters und Geschlechts durch extremere Hitzewellen stark gefährdet sei und die Schweiz es verabsäumt habe, sie davor zu beschützen. In Frankreich klagte ein ehemaliger Bürgermeister, der sein Recht auf Privatund Familienleben (Artikel 8) durch den steigenden Meeresspiegel bedroht sah. Und im dritten Fall waren sechs Kinder und Jugendliche aus Portugal gegen 33 Staaten, inklusive Österreich, vor Gericht gezogen. Hitzewellen und Waldbrände würden ihr Leben, Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen. Die letztgenannten Klagen wies der EGMR zurück, da der nationale Instanzenzug nicht voll ausgeschöpft wurde bzw. im französischen Fall die persönliche Betroffenheit nicht gegeben war.
Die Klimaseniorinnen erhielten hingegen einen positiven Richterspruch. Zwar wurden auch hier die persönlichen Klagen von vier Pensionistinnen abgewiesen, da das Gericht nicht genug Beleg fand, dass ihr Wohlbefinden unter der mangelhaften Klimapolitik der Schweiz leide. Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz jedoch wurde als legitimer Kläger angesehen und seinen Forderungen nach mehr Klimaschutz stattgegeben.
„Damit hat der EGMR Neuland geschaffen“, sagt Daniel Ennöckl, Leiter des Instituts für Rechtswissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien (Boku) im Gespräch mit der „Presse“. Bisher seien viele Klimaklagen gescheitert, weil die Kläger nachweisen mussten, dass sie persönlich und überdurchschnittlich von den Folgen der schlechten Klimapolitik bestimmter Staaten betroffen waren. Diesen Nachweis konnten etwa auch die Schweizer Pensionistinnen vor dem EGMR nicht erbringen. Aufgrund der „Besonderheiten des Klimawandels“hätte hingegen der Verband eine legitime Beschwerdebefugnis, so der EGMR.
Diese Neuschöpfung könnte auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung
in Österreich haben, meinen Juristen. Bisher war hierzulande der Weg für Klimaklagen ein steiniger, da es „keinen Rechtsschutz bezüglich gesetzgeberischer Untätigkeit“gibt, so Ennöckl.
Direkte Auswirkungen etwa auf die Urteile des Verfassungsgerichtshofs sind auch nach dem Urteil in Straßburg zwar nicht zu erwarten. Doch sollte sich ein Verein wie Greenpeace, der glaubhaft machen kann, dass er die Menschenrechte seiner Mitglieder vertritt, dazu entschließen, Österreich vor dem EGMR zu verklagen, stünden die Chancen auf Erfolg nicht schlecht. Und dann müsste auch Österreich ebenso aktiv werden wie nun die Schweiz und etwa nach vier Jahren ohne Klimaschutzgesetz ein entsprechendes Gesetz vorlegen.
In Österreich gibt es keinen Rechtsschutz bezüglich gesetzgeberischer Untätigkeit.
Daniel Ennöckl Leiter des Instituts für Rechtswissenschaften der Boku
Druck auf Staaten steigt
Wie viel das Urteil letztlich wert sein wird, bleibt abzuwarten. Das Urteil ist unanfechtbar und die betroffenen Mitgliedstaaten sind zur Umsetzung verpflichtet. Nur wenige Staaten wie die Türkei oder Russland ignorieren die Urteile des EGMR. Die meisten westlichen Nationen sind hingegen bemüht, nicht als vertragsbrüchig angesehen zu werden. Konkrete Sanktionen gibt es allerdings nicht, sollte die Schweiz weiter untätig bleiben. Das ist vor allem deshalb spannend, weil die Eidgenossen schon einmal ein Klimagesetz vorgelegt hatten, wie es nun von den Richtern gefordert wurde. Damals sprachen sich die Schweizer in einer Volksabstimmung gegen das Gesetz aus.
Auch andere Klimaklagen, die bisher vor Gericht Erfolg hatten, brachten in der Realität nur wenig Veränderung. Die meisten Staaten und Unternehmen, die vor Gericht unterliegen, schöpfen zumindest den ganzen Instanzenzug aus und verzögern notwendige Nachbesserungen so womöglich um entscheidende Jahre.
Dennoch sei die Strahlkraft des Urteils auf die europäischen Regierungen nicht zu vernachlässigen, sagen Juristen. Der Druck auf Unternehmen und Politik steige mit jeder Klimaklage – ganz egal, wie sie letztlich ausgehe. „Es geht hier eigentlich gar nicht primär um den Sieg im Gerichtssaal“, sagte Burkhard Hess, Professor für Zivilverfahrensrecht an der Universität Wien, „hier geht es um die Herstellung von Öffentlichkeit.“