Post Covid: Die unterschätzte Krankheit
Betroffen sind mindestens 100.000 Menschen. Anlaufstellen gibt es de facto keine. Die Behandlung steckt in den Kinderschuhen. Ebenso wie die Grundlagenforschung.
Wien. Neben psychischen Langzeitfolgen gehört Post Covid zu den am stärksten belastenden Relikten der Pandemie – definiert als Beschwerden, die auch drei Monate nach der akuten Erkrankung vorhanden sind und mindestens sechs Monate anhalten.
In erster Linie natürlich für die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen, aber auch für die Allgemeinheit. Leiden doch in Österreich mindestens 100.000 Personen an diesem Syndrom, das rund 200 Symptome (von leichter Erschöpfbarkeit, Herzrasen und Kurzatmigkeit über Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen bis hin zu Konzentrationsund Aufmerksamkeitsstörungen) umfasst und dazu führen kann, dass die Erkrankten ihren Alltag nicht allein bewältigen und keiner geregelten Arbeit nachgehen können.
Auch auf diesen Umstand, also auf die Auswirkungen von Post Covid auf das Gesundheitssystem und die Wirtschaft, weist seit mittlerweile vier Jahren die Familie Ströck hin, Eigentümer der Bäckereikette. Mit ihrer Stiftung We&Me will sie das Bewusstsein für diese Krankheit schärfen und – durch Spenden sowie durch die Vernetzung aller relevanten Stakeholder – dazu beitragen, dass mehr Grundlagenforschung betrieben wird und auch mehr spezialisierte Anlaufstellen für Patienten errichtet werden, damit sie rasch genesen und ein selbstständiges Leben führen. Gegründet wurde die Stiftung, nachdem zwei Söhne der Familie schwer an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom) erkrankt sind – schon vor der Pandemie.
Eine Folge von Infektionen
ME/CFS gehört zu den gängigsten Erkrankungen innerhalb des Post-Covid-Spektrums und kann durch Infektionen mit Viren und Bakterien ausgelöst werden. Infrage kommen etwa das Epstein-Barr-Virus oder das Coronavirus. Welcher Erreger bei den beiden jungen Männern in der Familie Ströck der Auslöser war, ist bis heute unklar. Die Ursache von ME/CFS dürfte eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems sein, sagt Michael Stingl. Der Wiener Neurologe behandelt Hunderte Patienten und ist einer der Top-Spezialisten rund um Post Covid. ME/CFS kann – je nach Schweregrad – zu Pflegebedürftigkeit und sogar zur Bettlägerigkeit führen: Laut Med-Uni Wien sind 60 Prozent der Patienten nicht in der Lage, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, 25 Prozent sind bettlägerig. Betroffene leiden somit unter einer stark beeinträchtigten Leistungsfähigkeit – mit der schweren Belastungs-Erholungsstörung PEM (Post-Exertional Malaise).
Bei dieser Erkrankung hat eine körperliche oder kognitive Aktivität über die individuelle Belastungsgrenze hinaus einen negativen Effekt, jede Belastung kann also zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes führen, der sofort oder mit zeitlicher Verzögerung (zwölf bis 48 Stunden) eintreten kann. Auch Sinnesreize oder Infektionen können als Trigger für eine Verschlechterung dienen. Um PEM zu vermeiden, wird zumeist das sogenannte Pacing angewendet – also das konsequente Anpassen der Aktivität an die Leistungsgrenze, bei dem zum Beispiel die Kontrolle des Pulses mittels Pulsmesser hilfreich sein kann, weil ein deutlicher Pulsanstieg ein Hinweis für Überanstrengung sein kann, erklärt Stingl.
Prävention und Anlaufstellen
Entscheidend für die Abgrenzung gegenüber Erkrankungen wie etwa eine Depression sind der unverminderte Antrieb und die Motivation der Betroffenen, die Symptomverstärkung nach Belastung und ein deutlicher Abfall der Performance bei der Wiederholung von Tests (Kraft, Ausdauer und Kognition) nach einer für gesunde Menschen eigentlich ausreichenden Pause. „Die Patienten wollen aktiv sein, können aber nicht“, sagt Stingl. „Depressive Menschen hingegen haben einen stark reduzierten Antrieb. Das ist der Unterschied.“
Was hinter Post Covid als übergeordnetem Syndrom steckt, ist ebenfalls noch immer nicht restlos geklärt. Eine plausible These lautet, dass sich Rückstände von Viren in den Atemwegen oder im Magen-Darm-Trakt befinden, die das Immunsystem stimulieren und schwelende Entzündungen nach sich ziehen. Das Risiko, nach Covid-19 den ME/ CFS-Typ von Post Covid zu entwickeln, liegt Stingl zufolge im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Die wirksamste Prävention ist die Vermeidung von Infektionen durch Maßnahmen wie etwa das Tragen von Masken und die Auffrischung von Schutzimpfungen. Anlaufstellen für Betroffene sind derzeit in erster Linie Hausärzte. Die von Betroffenenorganisationen sowie Medizinern geforderten Anlaufstellen mit gebündelter Kompetenz gibt es derzeit nicht. Zuletzt hat das Gesundheitsministerium eine Million Euro für die Errichtung eines Nationalen Referenzzentrums für postvirale Erkrankungen in Aussicht gestellt.
Konkrete Forderungen
Für Gabriele Ströck, die We&Me mit ihrem Mann, Gerhard, gegründet hat, braucht es mehr finanzielle Mittel, um Aufmerksamkeit zu schaffen, mehr Forschung zu betreiben und mehr Kompetenzzentren zu errichten. „Unser wichtigster Antrieb ist natürlich die
Verbesserung der Versorgung der Patienten und ihre soziale Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit“, sagt sie. „Als Wirtschaftstreibende will ich aber auch darauf hinweisen, dass Post Covid eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist. Die vielen Langzeitkrankenstände und Pflegefälle müssen doch jedem auffallen.“Dass kaum Daten über die Zahl der Betroffenen verfügbar sind und die Entstehung der Krankheit noch nicht restlos geklärt ist, mache die Situation schwieriger, „aber irgendwann müssen wir damit anfangen, mehr Daten zusammenzutragen, um die Grundlagenforschung voranzutreiben und ausreichend Anlaufstellen zu errichten“. Sie fordert alle direkt und indirekt Betroffenen auf, sich an diesen Maßnahmen zu beteiligen, die Politik ebenso wie die Wirtschaftskammer und die Gesundheitseinrichtungen. Das Syndrom Post Covid werde nach wie vor unterschätzt und teilweise sogar als schicksalhafte Einzelerkrankung abgetan. Dabei seien die Auswirkungen enorm – das menschliche Leid auf der einen, der wirtschaftliche Schaden auf der anderen Seite.