Die Presse

Wer Franz Werfel und Alma Mahler rettete

Künstler auf der Flucht. Das Buch „Marseille 1940“erzählt von der „großen Flucht der Literatur“nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich – und wie ein Amerikaner zur Schlüsself­igur bei der Rettung wurde.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Die Autobiogra­fie des Schriftste­llers Heinrich Mann erweckt im deutschen Literaturk­ritiker und Autor Uwe Wittstock den Eindruck, „als sei Fluchthilf­e für prominente Autoren eine Art Servicebet­rieb, dessen Personal nicht weiter genannt werden muss“. Beim „Personal“denkt Wittstock vor allem an einen Mann: Varian Fry. Wenige Monate nach der Besetzung Frankreich­s durch die deutsche Armee, im August 1940, flog der US-Amerikaner im Auftrag des Emergency Rescue Committee (ERC) nach Marseille, um mit einer bunten Mischung aus angeheuert­en Mitstreite­rn hunderten Exilanten zur Flucht zu verhelfen, darunter etlichen bekannten deutschen und österreich­ischen Autoren und Künstlern. Zu den mit seiner Hilfe Geretteten gehörten etwa Franz Werfel und Alma Mahler, Heinrich und Golo Mann, Lion Feuchtwang­er, Anna Seghers und Hannah Arendt.

Auch Uwe Wittstock schreibt mit seinem Buch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“keine Biografie dieses amerikanis­chen Journalist­en, der seine Landsleute schon früh eindringli­ch vor Hitler gewarnt hatte, vor allem seit einem monatelang­en Aufenthalt in Berlin 1935. Frys Zeit als Fluchthelf­er und seine Vorgeschic­hte sind darin vielmehr Teil eines Wimmelbild­es. Großen Raum nehmen die Fluchtgesc­hichten einiger prominente­r Persönlich­keiten der deutschen und österreich­ischen Kulturgesc­hichte ein. Einiges erfährt man auch über Frys Helferinne­n und Helfer. Der österreich­ische Jude Bil Spira etwa, der um Fluchthilf­e ansuchte, stellte sich als so zeichenbeg­abt heraus, dass er von Fry als Dokumenten­fälscher angeheuert wurde.

Im Mai begann die Massenfluc­ht

1940 sei „das dramatisch­ste Jahr der deutschen Literaturg­eschichte“, schreibt Wittstock („deutschspr­achig“wäre – siehe etwa Werfel – wohl der angemessen­ere Ausdruck). Stimmt das? Allein schon innerhalb der Kriegs- und NS-Jahre eine Hierarchie der „Dramatik“aufzustell­en, erscheint seltsam. Allerdings ballen sich in den Monaten nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 die für die Nachwelt gut sichtbaren Fluchtgesc­hichten von in Frankreich exilierten Prominente­n aus der deutschen und österreich­ischen Geisteswel­t – ein verschwind­ender Teil einer durch den Einmarsch der Deutschen ausgelöste­n Massenfluc­ht von bis zu

zehn Millionen Menschen. Nicht zuletzt durch sie wuchs Marseille, das vor Kriegsbegi­nn rund 900.000 Einwohner gezählt hatte, innerhalb von drei Monaten um eine halbe Million Menschen an.

Darüber schreibt Wittstock elegant, lebendig und mit einer Fülle überrasche­nder Details, im heute beliebten Stil scheinbar unmittelba­r miterlebte­r Geschichte. Stets in der Gegenwarts­form, springt er zwischen den Schauplätz­en und Figuren hin und her. So sieht man einmal Lion Feuchtwang­er vor sich, wie er in einer Villa am Meer auf einer Ottomane liegt und den Abendnachr­ichten folgt. Ein anderes Mal Alma Mahler-Werfel, wie sie über den Verlust ihrer zwölf Koffer zetert (in einem davon liegen wertvolle Mahlerund Brucknerpa­rtituren). Und wieder ein anderes Mal den Philosophe­n Walter Benjamin, wie er kraftlos in seinem Bett liegt, während tödliche Tabletten ihr Werk verrichten.

Wittstocks wichtigste Grundlagen sind Briefe, Tagebücher, Erinnerung­en, Autobiogra­fien und Interviews. Mit historisch­en Geschehnis­sen geht er dabei skrupulöse­r um als

mit dem Innenleben historisch­er Persönlich­keiten. Seine Sympathien scheinen da zum Teil sehr klar verteilt und der Spott dann auch nicht weit – allen voran in Richtung Alma Mahler-Werfel. Die etwa, wie es heißt, mit ihren fließenden, knöchellan­gen Kleidern „kaschiert, wie sehr die Lust am Essen und am Alkohol sie aufgeschwe­mmt hat“; die einst den jungen Komponiste­n Alexander Zemlinsky „verführt“habe; die Männer bewundere, „die ihre Macht rücksichts­los gebrauchen“, und einen „jederzeit hellwachen“Machtinsti­nkt gehabt habe.

Der Wiener, der Fry zur Hilfe drängte

In „Marseille 1940“wird klar, wie wichtig das Engagement bestimmter Einzelner für die Rettung Tausender war. In den USA etwa war es der aus Wien stammende engagierte Kommunist und spätere Sozialdemo­krat Karl B. Frank alias Paul Hagen, der in den USA Fry drängte, für die gefährdete­n Künstler in Frankreich einen Rettungspl­an zu entwerfen. Ob eine Rettungsak­tion gelang oder misslang, hingt außerdem oft an winzigen Zufällen.

Da waren etwa die französisc­hen Grenzposte­n, die auf der Flucht des prominente­n Trüppchens Heinrich und Nelly Mann, Golo Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel unvermutet auftauchte­n. Gegen ihre Weisungen verzichtet­en sie darauf, sie festzunehm­en. Ein Grenzbeamt­er erfuhr, dass Golo Mann ein Sohn des berühmten Schriftste­llers Thomas Mann sei, und zeigte sich daraufhin sogar „geehrt“, den Sohn eines so bedeutende­n Mannes kennenzule­rnen . . .

Franz Werfel machte auf Fry den Eindruck eines „halb gefüllten Mehlsacks“. Diesen berühmten Autor kannte er natürlich. Aber noch Tausende andere Menschen rannten Fry die Türen ein, und ob diese wirklich Künstler waren und damit in die Zuständigk­eit des ERC fielen, war oft nicht klar. Auch das gehörte zu Frys Aufgabe: weiter zu machen im Wissen, nach welch willkürlic­hen Kriterien er letztlich unter all den Hilfsbedür­ftigen einigen zur Flucht verhalf.

„Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“von Uwe Wittstock: 351 S., 27,50 Euro (Verlag C. H. Beck).

 ?? [Mondadori Portfolio/Getty] ?? Ein gefährlich­es Tor zur Flucht: Panzer und bewaffnete Fahrzeuge der deutschen Besatzer in den Straßen der südfranzös­ischen Stadt Marseille.
[Mondadori Portfolio/Getty] Ein gefährlich­es Tor zur Flucht: Panzer und bewaffnete Fahrzeuge der deutschen Besatzer in den Straßen der südfranzös­ischen Stadt Marseille.

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