Britpop träumt vom alten England
Auf „All Quiet on the Eastern Esplanade“blicken die Libertines wehmütig auf die weißen Klippen – und sehen Migranten in „Merry Old England“ankommen.
Wienerlied und Britpop haben einiges gemeinsam: die Wehmut, die Fixierung auf ganz konkrete Orte, die – oft selbstironische – Sehnsucht nach einer seligen Vergangenheit, die es so gar nicht gegeben hat. Die gute alte Zeit (in Wien gern als Backhendlzeit beschrieben) sei in Wahrheit hier und jetzt: Zu dieser schönen Pointe fanden The Libertines, Spätlinge des Nineties-Britpop, schon auf ihrem ersten Album, „Up the Bracket“(2002). Im selben Song, „The Good Times“, hieß es auch: „The Arcadian dream has fallen through, but the Albion sails on course.“
Die Albion, ein Schiff auf dem Weg ins (gefallene) Traumland Arkadien. Das Wort Albion, ein archaischer, wahrscheinlich keltischer Name für England, durchzieht seither ihr Werk, auch das Solowerk ihres Co-Chefs Pete Doherty, der sogar einen Song namens „Albion“gesungen hat, mit seiner Zweitband Babyshambles. Diese ist Geschichte, 2014 taten sich die Libertines wieder zusammen, nun ist ihr viertes Album erschienen. Die Tour dazu, die sie heuer durch, erraten, England führt, nennen sie mit einem selbstgeprägten Kunstwort „Albionay“.
Wie chauvinistisch ist das denn? So chauvinistisch wie eine Wienerin, die von der guten alten Wienerstadt schwärmt. Also nicht wirklich. Merke wohl: Es geht hier im Zweifelsfall um Träume. „And all dream on tonight“, heißt es schon im zweiten Song des Albums, dem etwas schlaffen „Mustang“. Im ersten, dem hurtigen „Run Run Run“, titelmäßig eine Verbeugung vor Velvet Underground, sind die Libertines noch dezidiert der (ihrer) Vergangenheit nachgelaufen, in den Straßen von Camden natürlich, in diesem Nordlondoner Bezirk war einst die Popszene daheim. Im dritten Song, „I Have a Friend“, fallen in einer Kriegszeitmetapher die Tränen wie die Bomben.
Der vierte Song, vielleicht der bemerkenswerteste, jedenfalls der schönste des Albums, heißt dann „Merry Old England“, ist voller Geigen und, nun ja, ambivalent. Zugleich ziemlich konkret. Wie auch das zugehörige Video realistisch illustriert, geht es um Immigranten, die an der englischen Küste landen. Genauer: beim Dalby Square in Margate (Grafschaft Kent).
Studio in einem alten Hotel
In diesem Örtchen haben die Libertines neuerdings ihr Aufnahmestudio, in einem alten Hotel an der Eastern Esplanade, das sie aufgekauft haben und nun „The Albion Rooms“nennen. Diese Adresse meinen sie auch, wenn sie das neue Album, offenbar den englischen Titel von Remarques Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“(„All Quiet on the Western Front“) variierend, „All Quiet on the Eastern Esplanade“nennen.
Die Immigranten im Song kommen jedenfalls aus Syrien, aus dem Irak und der Ukraine. „I know, I know, you’ve been around“, singt Doherty, „just had to get to merry old England.“Er singt das freundlich, fast zärtlich, er wünscht den Gestrandeten, dass sie nicht von der Polizei aufgegriffen werden. Es ist kein naives Willkommenslied, aber ein einfühlsames: „I climb your cliffs“, singt Doherty, und man meint ihm doch ganz zart anzuhören, dass er weiß, dass es nicht so leicht ist. Er selbst lebt übrigens seit 2021 in der Normandie, wo lässt es sich besser von England und seinen weißen Klippen träumen als auf der anderen Seite des Kanals?
Liz hat uns verlassen
Im zart schwirrenden, rhythmisch fast eleganten „Shiver“ist alles wieder dezidiert ein Traum, sogar ein letzter Traum sterbender Soldaten, wie es doch etwas heftig im Text heißt. Und da kommt es auch schon, das einst von den Sex Pistols verhöhnte „England’s dreaming“, das Gaukelbild des alten Imperiums: „Liz has gone away.“Da schaudert es den Sänger auf der Esplanade im Traumland Albionay…
Todesnahe waren sie immer, die Libertines, schon durch ihre offen eingestandene Abhängigkeit von harten Opiaten. Von ihr sind sie geheilt, doch der Tod ist auf andere Weise näher gerückt: „We were born astride the grave“, mit diesem Zitat aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“beginnt das vorletzte Lied, das desperate „Be Young“. Auch das ist ein alter Topos des britischen Pop, eigentlich seit „As Tears Go By“von den Rolling Stones, spätestens seit „They Are All in Love“von The Who: Der früh Gealterte steht vor dem Treiben der Jugend, es ist ihm fremd und nahe zugleich. Dazu kommt hier eine fahle Ahnung von der Klimakatastrophe: „You’re wandering away when you’re one degree away from total and utter annihilation.“
Da bleibt einem das „Sha-la-la“im Hals stecken. Der Tod, das muss ein Brite sein. Ein textlich grimmiges, musikalisch freilich grundkonservatives Album.