Kurdischer Politiker warnt vor Fluchtwelle aus Nordsyrien
Abdulkarim Omar berichtet von der schlimmen Lage der Menschen nach türkischen Luftangriffen und der Gefahr durch den IS.
Es ist ein Konflikt, der international kaum Beachtung findet. Denn er steht im Schatten der großen Kriege im Gazastreifen und der Ukraine – und wird zugleich von ihnen beeinflusst. Doch die Folgen könnten auch schon bald Europa spürbar werden. „Bei den letzten schweren Angriffswellen des türkischen Militärs wurden große Teile unserer Infrastruktur zerstört. Eine Million Menschen haben keinen Strom und kein sauberes Wasser mehr“, schildert Abdulkarim Omar, Europa-Vertreter der autonomen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, im Gespräch mit der „Presse“. Er ist derzeit zu Gast in Wien. Die Bewohner der Region litten immer stärker unter der verheerenden Lage, klagt Omar. „Wir merken, dass sich viele auf den Weg machen. Es droht eine neue Fluchtwelle.“
Das Territorium der Selbstverwaltung erstreckt sich über weite Teile Nord- und Ostsyriens und wurde von Kurden gemeinsam mit Arabern und anderen Gruppen eingerichtet. Derzeit wird es von allen Seiten bedrängt: Die Türkei fliegt Luftangriffe. Proiranische Milizen wollen hier Rache an den USA und deren Verbündeten nehmen. Und die Jihadisten des Islamischen Staates (IS) verstärken ihre Aktivitäten – wohl mit dem Ziel, wieder ein eigenes Herrschaftsgebiet zu erobern.
Angriff proiranischer Milizen
Die größten Schäden haben zuletzt die türkischen Bombardements angerichtet. „Das türkische Militär hat nicht nur mit Drohnen, sondern auch mit Kampfflugzeugen angegriffen.“Die Regierung in Ankara spricht dabei von „Anti-Terror-Operationen“. Sie bezeichnet die bewaffneten Kräfte und auch die zivilen Institutionen der Selbstverwaltung als Komplizen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die PKK kämpft seit Jahrzehnten einen Untergrundkrieg in der Türkei und steht auch in der EU auf der Terrorliste. Die türkischen Behörden beschuldigten kurdi
sche Einheiten aus Nordsyrien, in einen Anschlag in der Türkei verwickelt zu sein.
Omar weist das zurück: „Das sind falsche Anschuldigungen.“Die Regierung in Ankara sollte versuchen, „die kurdische Frage in der Türkei demokratisch zu lösen“. Stattdessen wolle der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, das Autonomieprojekt in Syrien zerstören. Omar wirft Erdoğan vor, dabei auszunutzen, dass die Weltöffentlichkeit durch die Kriege in der Ukraine und Gaza abgelenkt sei.
Zugleich hat der Konflikt zwischen Israel und den Extremisten der Hamas im Gazastreifen auch Auswirkungen auf die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Irans Regime zählt zu den wichtigsten Helfern der Hamas. Zugleich sind proiranische Milizen in Syrien auf der Seite des Machthabers Bashar al-Assad im Einsatz. Und dort haben sie auch immer wieder Soldaten von Israels Alliiertem USA ins Visier genommen. Ein Angriffsziel wurden dabei zuletzt auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) – die Truppen der Selbstverwaltung, die an der Seite der USA gegen die IS-Jihadisten kämpfen: Bei einer Attacke proiranischer Milizen in der Provinz Deir Ezzor starben mehrere SDF-Kämpfer. „Der Iran will die USA unter Druck setzen, damit sie aus Syrien abziehen“, sagt Omar.
US-Soldaten sind als Teil der internationalen Koalition gegen den IS in Syrien gemeinsam mit den SDF-Truppen der Selbstverwaltung im Einsatz. Ein Rückzug der USA würde den Kampf gegen den Islamischen Staat schwächen, fürchtet Omar. „Die Attacken des IS haben um 65 Prozent zugenommen“, berichtet er. Der Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober und auch das jüngste Attentat in Moskau habe den Jihadisten in Nordsyrien offenbar einen Motivationsschub gegeben.
Das „Kalifat“des Islamischen Staates wurde 2019 endgültig zerschlagen, als SDF-Truppen mit US-Hilfe den letzten IS-Rückzugsort im syrischen Ort Baghuz einnahmen. Seither operieren die Jihadisten aus dem Untergrund. Eines ihrer Hauptprojekte: die Befreiung möglichst vieler der mehreren Zehntausend ISKämpfer und IS-Familienangehörigen, die auf dem Gebiet der Selbstverwaltung inhaftiert sind. Darunter sind auch IS-Anhänger aus Europa. Omar wiederholt deshalb eine alte Forderung: Die westlichen Länder sollten ihre Staatsbürger unter den IS-Gefangenen endlich zurücknehmen.