Globaler Kulturkampf: Werte klaffen immer weiter auseinander
Der Westen setzt seine liberale Lebensweise nicht weltweit durch, sondern isoliert sich zunehmend. Warum?
Diese Entwicklungen können verblüffen: Um 1980 hatten Australier und Pakistanis bei vielen Fragen vergleichbare Überzeugungen. In beiden Ländern lehnte etwa eine Mehrheit der Bevölkerung Ehescheidungen ab. In Pakistan ist es dabei geblieben, in Australien hat sich die Einstellung grundlegend gewandelt. Oder: Ist es wichtig, dass Kinder den Erwachsenen gehorchen? Das bejahten früher sogar mehr Australier als Pakistanis, heute sind es down under nur noch 18 Prozent, in der islamischen Republik aber 49 Prozent. Nein, die Globalisierung und der verstärkte Kontakt haben nicht dazu geführt, dass sich die kulturellen Werte weltweit angleichen.
Liegt es in diesem Beispiel daran, dass in Australien der Lebensstandard viel stärker gestiegen als in Pakistan? Vielleicht ist ja Wohlstand der große kulturelle Gleichmacher, und deshalb brauchen manche Länder länger? Auch das widerlegen die Daten. Nehmen wir Hongkong und Kanada, zwei Staaten, deren Pro-Kopf-Einkommen sich in diesen vier Jahrzehnten synchron entwickelt haben, von 25.000 auf 50.000 Euro. Nicht so manche Werte: Homosexuelle werden zwar heute hier wie dort eher akzeptiert als früher, aber der Wertwandel war in Kanada weitaus stärker, was die kulturelle Kluft sogar vergrößert hat. Ist Hongkong ein Spezialfall, weil aus der britischen Thronkolonie ein Vasall Pekings wurde? Die Daten zeigen auch ein Wiederaufleben konfuzianischer Werte, das sich ähnlich in Singapur und dem demokratischen Südkorea beobachten lässt. Die Region rückt also kulturell zusammen, unabhängig von der politischen Ausrichtung – und entfernt sich vom Westen. Wie auch die arabische Halbinsel, wo der märchenhafte Reichtum durch Ölexporte nicht zu einer Säkularisierung geführt hat. Vielmehr dient der Islam dort als Baustein einer postkolonialen Identität, mit der sich die Araber vom Westen abgrenzen.
Bisher größte Auswertung
Es gibt ihn also, den „Kampf der Kulturen“, den der Politologe Samuel Huntington als Megatrend für das 21. Jahrhundert prophezeit hat: Das ist das wesentliche Fazit einer Studie des Forscherduos Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev von der Uni Chicago, die nun im Fachmagazin „Nature Communications“erschienen ist.
Sie haben dazu nichts weiter getan, als die Umfragen des „World Values Survey“auszuwerten, der seit 1981 die Werteinstellungen weltweit in sieben Wellen erhoben hat. Aber mit den Antworten von über 400.000 Menschen aus 76 Ländern zu 40 ausgesuchten Werten haben sie die bisher größte Datengrundlage analysiert, um konkurrierende Theorien zu bewerten: Wachsen wir als Menschheit kulturell zusammen oder entfremden wir uns voneinander? Eher Letzteres, zeigen die Studienautoren.
Vor allem, wenn es um Toleranz und Offenheit geht: Am stärksten ist die Kluft zwischen dem Westen (inklusive Lateinamerika) und dem Rest der Welt (also Asien und Afrika) bei der Akzeptanz von Homosexualität, Scheidung und Abtreibung. Also bei „emanzipatorischen“Werten, die dem Individuum mehr Freiraum geben, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, statt sich einem Kollektiv anzupassen, den Regeln von Religion oder Gesellschaft. Es geht um jene typisch westlichen, liberalen Werte, von denen viele nach dem Ende des Kalten Krieges überzeugt waren, dass sie sich zusammen mit Demokratie und Rechtsstaat rasch auf dem ganzen Erdball durchsetzen würden. Warum kam es nicht zu einem solchen „Ende der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama voraussah? Wo lag der Denkfehler?
Globalisierung und Wohlstand reichen nicht aus, wie wir gesehen haben. Dass Menschen weltweit Kleidung derselben westlichen Marken tragen und bei McDonald’s essen, blieb ein oberflächliches Phänomen. Wie auch die Verbreitung westlicher Massenmedien: Peking verbannt viele Kanäle, Indern und Arabern ist selbst gemachter „Content“oft lieber. Und auch wer US-Filme und -Serien gern aus der Ferne anschaut, übernimmt nicht automatisch die darin transportierten Werte, wie andere Studien zeigen. Auch dass Internet und Smartphones eine kulturelle Hegemonie schaffen würden, hat sich als Irrtum erwiesen: Dass „die neuen Technologien immer wichtiger werden“, ist zwar jenes der 40 Themen, bei dem es die größte globale Konvergenz gab – aber hier geht es nur um das Werkzeug, nicht um die Inhalte.
‘‘ An die Universalität westlicher Werte zu glauben ist falsch, unmoralisch und gefährlich.
Samuel P. Huntington, Politologe (1927–2008)
Unterschätzte Alternativen
Unterschätzt haben die voreiligen Verkünder der westlichen Hegemonie hingegen ideologische Tendenzen. In das Vakuum, das der Niedergang des Kommunismus hinterlassen hat, rückten nicht nur westliche Werte vor. Mit ihnen konkurrieren heute postkoloniale Strömungen, ein erstarkter Islam, ein autoritärer Staatskapitalismus in China und ein aggressiver Nationalismus in Russland, das sich ganz explizit als Bollwerk gegen westliche Werte versteht. Wie groß das gegenseitige Unverständnis zwischen dem Westen und dem „globalen Süden“geworden ist, zeigt die oft fast konträre Einschätzung des neuen Nahostkonflikts.
Die Studie aus Chicago belegt auch: Im Westen selbst sind die „emanzipatorischen Werte“, allen Rechtspopulisten zum Trotz, bisher weiter auf dem Vormarsch. Auch hier rückt man zusammen – man denke an das rasche gesellschaftspolitische „Nachziehen“in früher sehr konservativen Ländern wie Irland, Spanien oder Portugal. Damit entfremdet sich dieser Kulturkreis aber auch aktiv vom Rest der Welt. Westlich, gebildet („educated“), industrialisiert und reich: Das ergibt auf Englisch das Akronym „weird“– und das heißt: seltsam.