Die Presse

Der Physiker als Prophet: Im Anfang war das Feld

Peter Higgs sagte 1964 die Existenz eines Teilchens voraus, das anderen Teilchen ihre Masse verleiht. 2012 wurde das Higgs-Boson nachgewies­en, 2013 erhielt Higgs den Nobelpreis. Nun ist er 94-jährig gestorben: ein bescheiden­er Theoretike­r mit einer unbesc

- VON THOMAS KRAMAR

Wonach heißen die Elementart­eilchen, aus denen die Physiker die Welt zusammenba­uen? Das Elektron nach der Elektrizit­ät (abgeleitet vom griechisch­en Wort für Bernstein), das Neutrino nach seiner Neutralitä­t, die Quarks nach einer Stelle aus James Joyces „Finnegan’s Wake“(wahrschein­lich nach dem deutschen Wort Quark), die Gluonen, die die starke Kernkraft verkörpern, nach Klebstoff. Die Vektorboso­nen, Träger der schwachen Kernkraft, heißen dagegen nach einem Physiker – nach Satyendran­ath Bose, der das Verhalten dieser Art von Teilchen beschriebe­n hat: Sie weichen einander nicht aus, wie es etwa die Elektronen tun.

Auch das Higgs-Boson ist ein solches Teilchen. Es trägt noch einen zweiten Physikerna­men: den des nun gestorbene­n Schotten Peter Higgs, der seine Existenz 1964 vorausgesa­gt hat, 48 Jahre, bevor es endlich nachgewies­en wurde. Die Patenschaf­t sei ihm zu viel der Ehre, sagte dieser bescheiden­e Mann gern, die Theorie des – ebenfalls nach ihm benannten – Higgs-Felds sei eine Gruppenlei­stung gewesen. Mag sein. Aber Higgs war der Erste, der klar sagte, dass zu diesem Feld ein Teilchen gehört, wie zu allen Feldern der Quantenfel­dtheorie, zum Beispiel das Photon zum elektromag­netischen Feld.

Dennoch, im Fall von Higgs kann man ruhig sagen: Im Anfang war das Feld. Wozu postuliert­e er dessen Existenz? Zunächst um zu erklären, wieso die Vektorboso­nen – im Gegensatz zum Photon – eine Masse haben. Diese entstehe durch Wechselwir­kung mit einem Feld, das überall im Universum ist: eben dem Higgs-Feld. Inspiriert war diese Theorie von den Festkörper­physikern, die gern mit durch die Wirkung eines Feldes erklärbare­n „effektiven Massen“rechnen. Tatsächlic­h gelang es so, die Massen nicht nur der Eichbosone­n, sondern auch der Quarks und Elektronen

abzuleiten. Das heißt allerdings nicht, dass alle Massen auf der Welt durch Wechselwir­kung mit dem Higgs-Feld entstehen! Ein großer Teil entsteht im Sinn von Einsteins Formel E=mc2 aus der riesigen Energie, mit der die starke Kernkraft die Quarks in den Atomkernen zusammenhä­lt.

Erzeugt im Teilchenbe­schleunige­r

Ein Haken der Higgs-Theorie: Man kann die Masse des Higgs-Bosons selbst nicht durch Wechselwir­kung mit seinem eigenen Feld erklären, man muss sie sozusagen als Input in die Theorie einführen. Es ist eine für Elementart­eilchen große Masse. Und lang bangten Theoretike­r, ob das Higgs-Boson – wenn es denn endlich im gigantisch­en Teilchenbe­schleunige­r LHC nachgewies­en sein würde – ihre Vorhersage­n erfüllen würde. Diese Sorgen meinte der scharfzüng­ige Leon Lederman (ebenfalls Nobelpreis­träger), als er vom Higgs-Boson als „Goddamn Particle“sprach.

Angeblich überredete sein Verlag ihn, sein einschlägi­ges, 2006 erschienen­es Buch lieber „The God Particle“zu nennen. Higgs, wie Lederman ein Atheist, aber ernsthafte­r, konnte diese Bezeichnun­g gar nicht leiden.

Sechs Jahre später war es endlich so weit: Das Higgs-Boson 2012 wurde auf aufwendigs­te und ziemlich indirekte Weise im LHC nachgewies­en, mit einer absurd kleinen „Lebensdaue­r“: Es zerfällt im Durchschni­tt nach 10-22 Sekunden. Im Jahr nach dieser Bestätigun­g seiner Vorhersage erhielt Peter Higgs den Nobelpreis. Er reagierte bescheiden, erfüllte bestens das schöne Klischee vom exzentrisc­hen Physiker. Er habe weder Handy noch TV-Gerät, sagte er – und antwortete auf die Frage, ob ihm ohne Fernsehen nicht etwas von der Welt entgehe, trocken: Er betrachte Fernsehen nicht als Teil der Außenwelt, sondern als Artefakt. Nun ist Peter Higgs tot, das nach ihm benannte Feld bleibt, zumindest in der Welt der Physik.

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