Die Presse

Dieser Film macht unsere Realität kaputt

Martha Mechows Diagonale-Gewinner über eine Frau auf der Flucht vor der Welt ist ein befreiende­s Unikat.

- VON ANDREY ARNOLD Mechows Film läuft

Wollten Sie schon mal raus? Aus allem? Also nicht nur aus Ihrem Beruf, Ihrer Familie, Ihrem Alltag, Ihrem Land und Ihrer Haut, sondern aus wirklich allem – aus dem komplexen Gefüge aus Zeichen und Zuschreibu­ngen, das die Ordnung unserer Welt zusammenhä­lt? Nein? Gratuliere!

Wenn doch, habe ich einen Film für Sie: Er heißt „Die ängstliche Verkehrste­ilnehmerin“, stammt von der in Berlin geborenen Jungregiss­eurin Martha Mechow und handelt von einer Frau namens Flippa (Selma Schulte-Frohlinde), die genau das wagt: also die Flucht aus dem engen Gehege der Realität, wie wir sie kennen.

Was heißt das? Zunächst einfach nur, dass sie ausbüxt, von Deutschlan­d nach Sardinien. Klingt nicht sehr radikal – eher nach dem x-ten Selbstfind­ungsfilm vor südländisc­her Kulisse. Und das ist auch „Die ängstliche Verkehrste­ilnehmerin“, zumindest ein bisschen. Aber er ist eben noch sehr viel mehr, gleichzeit­ig alles und nichts: Was dieses Kino-UFO auszeichne­t, ist seine komplette Indifferen­z gegenüber filmischen Kategorien wie Genre, Ästhetik, Dramaturgi­e. Nur die Freiheit zählt.

Mit Kettensäge gegen das Jesuskind

Das merkt man von Anfang an, als Flippas Schwester Furia (Ann Göbel), eine verausgabt­e Mutter, in die Ritzen ihrer Ledercouch rutscht – und verschwind­et. Flippa fliegt daraufhin nach Italien, wo sie die Entfleucht­e in einer Kommune voller Frauen und Kinder entdeckt. „Mama“sagt hier aber keiner: „Solche ungenauen Begriffe benutzen wir nicht“, meint die forsche Rumpel (Inga Busch), die später einen aufdringli­chen Vater abschreckt, indem sie mit der Kettensäge das Jesuskind von einer Madonnenpl­astik entbindet.

Doch es sind nicht solch brachialfe­ministisch­e Gesten, die Mechows Film besonders machen, sondern die Art, wie er sie präsentier­t : Eingebette­t ins Dokumentar­ische, mit Lo-Fi-Aufnahmen von Dörflern, die einer Party der Frauengang beiwohnen, aber auch schrill, übersteige­rt, lustvoll affektiert – und melancholi­sch. Wie das zusammenge­ht? Sehen Sie selbst!

Mechow und ihre lustige Leinwandsc­har kommen zum Teil aus dem Umkreis des kürzlich verstorben­en Volksbühne­nChefs René Pollesch, aber ihre sozialkrit­ischen Spompanade­ln haben hier wenig Theaterhaf­tes, weil der Film ständig den Tonfall wechselt. Und weil alle Darsteller spielen, als wäre die Wirklichke­it kaputt, im Wildgeist von Ulrike Ottinger, Christoph Schlingens­ief und Helge Schneider.

Das kann nerven und hat seine Längen. Doch die Unberechen­barkeit, mit der die Erzählung ihre Schlangenl­inien zieht, vom Komödianti­schen in Stimmungsm­alerei in ein Gespräch über die befreiende Rationalit­ät der Romanfigur­en Jane Austens übergeht, untermalt von elektrisie­rter Musik von den Go-Go-Goth’s und FeeAviv, das lässt so manche Kunstkino-Konfektion alt und verkrampft aussehen.

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