Dieser Film macht unsere Realität kaputt
Martha Mechows Diagonale-Gewinner über eine Frau auf der Flucht vor der Welt ist ein befreiendes Unikat.
Wollten Sie schon mal raus? Aus allem? Also nicht nur aus Ihrem Beruf, Ihrer Familie, Ihrem Alltag, Ihrem Land und Ihrer Haut, sondern aus wirklich allem – aus dem komplexen Gefüge aus Zeichen und Zuschreibungen, das die Ordnung unserer Welt zusammenhält? Nein? Gratuliere!
Wenn doch, habe ich einen Film für Sie: Er heißt „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“, stammt von der in Berlin geborenen Jungregisseurin Martha Mechow und handelt von einer Frau namens Flippa (Selma Schulte-Frohlinde), die genau das wagt: also die Flucht aus dem engen Gehege der Realität, wie wir sie kennen.
Was heißt das? Zunächst einfach nur, dass sie ausbüxt, von Deutschland nach Sardinien. Klingt nicht sehr radikal – eher nach dem x-ten Selbstfindungsfilm vor südländischer Kulisse. Und das ist auch „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“, zumindest ein bisschen. Aber er ist eben noch sehr viel mehr, gleichzeitig alles und nichts: Was dieses Kino-UFO auszeichnet, ist seine komplette Indifferenz gegenüber filmischen Kategorien wie Genre, Ästhetik, Dramaturgie. Nur die Freiheit zählt.
Mit Kettensäge gegen das Jesuskind
Das merkt man von Anfang an, als Flippas Schwester Furia (Ann Göbel), eine verausgabte Mutter, in die Ritzen ihrer Ledercouch rutscht – und verschwindet. Flippa fliegt daraufhin nach Italien, wo sie die Entfleuchte in einer Kommune voller Frauen und Kinder entdeckt. „Mama“sagt hier aber keiner: „Solche ungenauen Begriffe benutzen wir nicht“, meint die forsche Rumpel (Inga Busch), die später einen aufdringlichen Vater abschreckt, indem sie mit der Kettensäge das Jesuskind von einer Madonnenplastik entbindet.
Doch es sind nicht solch brachialfeministische Gesten, die Mechows Film besonders machen, sondern die Art, wie er sie präsentiert : Eingebettet ins Dokumentarische, mit Lo-Fi-Aufnahmen von Dörflern, die einer Party der Frauengang beiwohnen, aber auch schrill, übersteigert, lustvoll affektiert – und melancholisch. Wie das zusammengeht? Sehen Sie selbst!
Mechow und ihre lustige Leinwandschar kommen zum Teil aus dem Umkreis des kürzlich verstorbenen VolksbühnenChefs René Pollesch, aber ihre sozialkritischen Spompanadeln haben hier wenig Theaterhaftes, weil der Film ständig den Tonfall wechselt. Und weil alle Darsteller spielen, als wäre die Wirklichkeit kaputt, im Wildgeist von Ulrike Ottinger, Christoph Schlingensief und Helge Schneider.
Das kann nerven und hat seine Längen. Doch die Unberechenbarkeit, mit der die Erzählung ihre Schlangenlinien zieht, vom Komödiantischen in Stimmungsmalerei in ein Gespräch über die befreiende Rationalität der Romanfiguren Jane Austens übergeht, untermalt von elektrisierter Musik von den Go-Go-Goth’s und FeeAviv, das lässt so manche Kunstkino-Konfektion alt und verkrampft aussehen.