Die Presse

Selenskij peitscht Mobilisier­ung durch

Ein neues Gesetz soll die Reihen der ausgedünnt­en Armee mit 500.000 frischen Soldaten füllen. Die Maßnahme ist umstritten. Es könnte zu Protesten von Angehörige­n kommen.

- Von unserem Korrespond­enten PAUL FLÜCKIGER

Nach über zehnwöchig­er Diskussion hat das ukrainisch­e Parlament mit großer Mehrheit ein neues Mobilisier­ungsgesetz beschlosse­n, das dem Heer allein dieses Jahr 450.000 bis 500.000 neue Rekruten bescheren soll. 283 der anwesenden 351 Abgeordnet­en (insgesamt 450) stimmten für den mehrmals überarbeit­eten Entwurf der Regierung von Ende Jänner.

Die Mobilisier­ungsnovell­e zielt darauf ab, die Registrier­ung von wehrfähige­n Männern zu verschärfe­n und Ausnahmen vom Militärdie­nst einzuschrä­nken. Außerdem werden strengere Strafen für Drückeberg­er und offene Kriegsdien­stverweige­rer eingeführt. Neuerdings soll ihnen nebst hohen Bußen auch der Entzug des Führersche­ins drohen. So sollen mehr junge Männer dazu ermuntert werden, ihren Stellungsg­esuchen auch nachzukomm­en. Zudem sollen nur noch militärisc­he ausgebilde­te Männer – oder aber Dienstunta­ugliche – Beamte werden können. Eine Wehrpflich­t für Frauen wurde nicht eingeführt.

Die ukrainisch­en Streitkräf­te haben nach mehr als zwei Jahren

Abwehrkrie­g gegen die russischen Invasoren mit erhebliche­m Personal-, Waffen- und Munitionsm­angel zu kämpfen. Auch übernimmt Russland entlang der gut 1000 Kilometer langen Front zunehmend die Initiative. Laut dem im Februar entlassene­n Oberbefehl­shaber Waleri Saluschny sind deshalb allein 2024 eine halbe Million neue Soldaten notwendig.

Viele Ungerechti­gkeiten

Staatspräs­ident Wolodymyr Selenskij hatte bereits Anfang April per Dekret das Mobilisier­ungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Allein diese Maßnahme soll der ukrainisch­en Armee Zehntausen­de frische Kräfte bescheren. Sie müssen allerdings zuerst einmal ausgebilde­t werden.

Dass es damit hapert und bei der Einberufun­g zu vielen Ungerechti­gkeiten kommt, berichten ukrainisch­e Flüchtling­e und Gastarbeit­erinnen in Polen, deren Ehemänner oder Söhne in der Ukraine geblieben sind. „Die Mobilisier­ung ist zu einem Geschäft verkommen“, erklärt Lena K., die seit über zehn Jahren in Warschau arbeitet. Die Mittfünfzi­gerin erzählt von einem Verwandten aus der Stadt Rohatyn im Südosten von Lwiw (Lemberg), dem versproche­n worden sei, der Mobilisier­ung in diesem Jahr gegen Zahlung von 2000 Dollar zu entgehen. Kaum habe der junge Mann sich so viel Geld beschafft und bezahlt, habe ihn ein anderer Beamter der örtlichen Mobilisier­ungsstelle eingezogen.

Lena K. kennt in derselben Stadt auf einen Dreißigjäh­rigen, der aus Angst, von der Straße weg rekrutiert zu werden, seit Monaten sein Haus nicht mehr verlässt. „Der Mann hat sich völlig isoliert, hat keine Freunde mehr, geht nicht mehr angeln und auch nicht arbeiten“, erzählt die Gastarbeit­erin. Nur spät abends würde er einmal in der Woche einkaufen.

Das neue Mobilisier­ungsgesetz in der Ukraine ist denn auch nach wie vor umstritten. Angenommen wurde es am Donnerstag vor allem von Selenskijs Partei der „Volksdiene­r“sowie kleinerer Parteien. Die beiden Opposition­sparteien „Europäisch­e Solidaritä­t“von Ex-Präsident Petro Poroschenk­o und „Batkiwtsch­ina“(Vaterland) von Ex-Premiermin­isterin Julia Timoschenk­o nahmen es nicht an. Sie kritisiert­en immer noch unklare Strafen, vor allem aber, dass eine geplante Demobilisi­erungsklau­sel für Frontkämpf­er am Mittwochab­end

von dem Gesetz abgekoppel­t worden war.

Ursprüngli­ch hätte in dem Mobilisier­ungsgesetz auch geregelt werden sollen, welche Frontsolda­ten nach zweijährig­em Frontdiens­t abgelöst werden. Doch Selenskijs neuer Oberbefehl­shaber, Aleksander Syrski, hatte kurzfristi­g einen Verzicht auf diese Demobilisi­erungsmaßn­ahmen gefordert.

Angeblich ging es ihm dabei vor allem um die Rotation der Truppen. Doch die ukrainisch­e Opposition befürchtet, dass die Frontsolda­ten noch länger dienen müssen. Beobachter in Kiew schließen Proteste vor allem von Angehörige­n wie deren Ehefrauen und Freundinne­n in der kommenden Zeit nicht aus.

Angriffe auf Infrastruk­tur

Bei schweren russischen Angriffen auf die Energie- und Transporti­nfrastrukt­ur sind derweil seit Mittwoch ein Dutzend Zivilisten getötet worden. Ziel der russischen Raketenang­riffe waren vor allem die einstige Millionens­tadt Charkiw nahe der russischen Grenze, der Hafen von Odessa und die Schiffbaue­rstadt Mykolajiw auf halben Wege zwischen Cherson und Odessa.

 ?? [Imago/Sopa Images] ?? Ukrainisch­e Rekruten gedenken der gefangenen Soldaten, die in Russland erschossen worden sein sollen.
[Imago/Sopa Images] Ukrainisch­e Rekruten gedenken der gefangenen Soldaten, die in Russland erschossen worden sein sollen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria