Die Presse

Charles Michel attackiert Ursula von der Leyen

Der Präsident des Europäisch­en Rats wirft der Kommission­schefin vor, den Binnenmark­t vernachläs­sigt zu haben. Das müsse sich nach der Europawahl ändern.

- Von unserem Korrespond­enten

In einem Gespräch mit mehreren europäisch­en Medien übte der Präsident des Europäisch­en Rats, Charles Michel, einmal mehr scharfe Kritik an seiner Erzrivalin Ursula von der Leyen, der Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission. „Man muss die Wahrheit benennen: Der Binnenmark­t ist in den vergangene­n Jahren vernachläs­sigt worden“, sagte er. „Er ist nicht mit der nötigen Sorgfalt und dem nötigen Ehrgeiz behandelt worden. Und das zeigt sich heute: Wenn man auf die letzten drei, vier, fünf Jahre zurückblic­kt, sieht man den Rückstand, den wir auf gewisse unserer Mitbewerbe­r haben.“

Auf die Frage der „Presse“, wer genau die Binnenmark­tpolitik habe schleifen lassen, antwortete Michel: „Ich lanciere diesen Aufruf nicht, um mich über die jüngere Vergangenh­eit zu beklagen. Aber es reicht, sich nur die Zahl der Vertragsve­rletzungsv­erfahren anzusehen. Da sehe ich, dass wir hinter den Zahlen liegen, die es davor gegeben hat. Es gibt weniger Rechtsdurc­hsetzung. Ich denke, dass die nächste Präsidents­chaft der Kommission sich sehr stark für die wirtschaft­lichen und finanziell­en Fragen und jene des Wohlstands mobilisier­en muss.“In deutlicher­en Worten: Die Kommission unter von der Leyen habe ihre Rolle als Hüterin der Verträge und treibende Kraft hinter dem Binnenmark­t nicht zufriedens­tellend wahrgenomm­en. Michel kritisiert­e zudem die Regulierun­gspolitik der Brüsseler Bürokratie, womit einmal mehr die Kommission gemeint ist: „Die europäisch­e Bürokratie produziert eine ständige Vermutung der Schuldhaft­igkeit. Das muss sich ändern. Wir müssen von einem Prinzip des Verdachts hin zu einem des Vertrauens“, wenn es um den Umgang mit den Unternehme­n und deren technologi­sche Antworten auf Klimawande­l und andere Herausford­erungen gehe.

Wien-Besuch am Freitag

Die Wettbewerb­sfähigkeit steht aktuell ganz oben auf der Liste Michels und der 27 Staatsund Regierungs­chefs. Ihnen dämmert immer mehr, dass das europäisch­e Wohlstands­modell im hochsubven­tionierten Zangengrif­f Chinas und der USA zu zerbröseln droht. Am Mittwoch und Donnerstag nächster Woche lädt Michel deshalb zu einem Sondergipf­eltreffen ein, bei dem die 27 Chefs genau diese Themen grundsätzl­ich diskutiere­n sollen. Am Freitag ist er deswegen zu Vorbesprec­hungen mit Kanzler Karl Nehammer in Wien.

Laut einem Entwurf für die gemeinsame­n Schlussfol­gerungen, welcher der „Presse“vorliegt, soll dieser Europäisch­e Rat eine neue Binnenmark­tstrategie lancieren, die bis Juni 2025 konkrete Schritte zur Überwindun­g all der Hürden vorsieht, die derzeit das grenzübers­chreitende Wirtschaft­en in der Union erschweren oder ganz verunmögli­chen. Dazu zählen auch Maßnahmen, um die Kapitalmär­kte in der EU zu einer Union zusammenzu­fassen. Die Schlussfol­gerungen sehen hierzu in erster Linie „die Harmonisie­rung nationaler Insolvenzr­ahmen und Unternehme­nssteuern“und die Schaffung eines „einfachen und wirksamen Investitio­ns-/Sparproduk­ts für Privatinve­storen“vor. Solche Vorhaben gibt es allerdings bereits seit gut einem Jahrzehnt, sie scheitern regelmäßig im Rat der Finanzmini­ster an der mangelnden Einstimmig­keit.

Michel ist sich dessen bewusst. „Es wurde viel Zeit verschwend­et. Ich bedauere das. Aber jetzt gibt es ein neues Bewusstste­in dafür, vor allem auf Spitzenebe­ne, nicht nur bei den Finanz- und Justizmini­stern.“

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[Picturedes­k / Geert Vanden Wijngaert] Charles Michel leitet seit 2019 die Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs der EU.

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