Wie wird man zum Vorturner der Nation?
Fernsehgeschichte. TV-Turnstunden sind so alt wie das Fernsehen selbst. So populär wie „Fit mit Philipp“waren sie aber lang nicht. Von Skigymnastik, Aerobic im Elasthanbody und Menschen, die schwitzen wie kaum ein Fitness-Influencer.
Trinken, trinken, trinken, denn die Zelle, die muss schwimmen“– so lautet der Spruch, mit dem TV-Vorturner Philipp Jelinek seine tägliche Fitnesseinheit im ORF beendet. Beziehungsweise beendet hat: Seine Karriere als Fernsehcoach könnte vorbei sein, wird berichtet. Derzeit laufen noch Wiederholungen von „Fit mit Philipp“. Dass Jelinek der FPÖ Insiderinformationen aus dem ORF gegen politische Protektion versprochen hat, wie Chats belegen, wurde ihm zum Verhängnis. Ein eher unsportlicher Move eines Mannes, der seit Jahren mit Ausfallschritten, Kniekreisen, Sesselgymnastik den Kreislauf der Österreicher und Österreicherinnen anregt. Und damit ein Phänomen wieder populär machte, das eigentlich in eine frühere Ära der TV-Unterhaltung gehörte.
Ganz weg war das Turnen vor dem Fernseher nie. Doch derart beliebt, wie es während der Pandemie wieder wurde – und, im Fall von „Fit mit Philipp“, auch danach blieb –, war es zuletzt vor Jahrzehnten. In Zeiten, in denen Aerobic-Formationen in Leggings und Dauerwelle vor Kameras hüpften und man sich zur Skigymnastik im Wohnzimmer versammelte. Während im Radio Ilse Buck sanft, aber deutlich zur Ertüchtigung ermahnte. Was in einer „Kottan“-Folge von 1980 eindrucksvoll festgehalten wurde: Da fährt Lukas Resetarits durch Wien, im Autoradio leitet Buck zu Liegestützen an, und die ganze Stadt macht mit, auf den Gehsteigen, auf Motorhauben, an Hauswände gestützt. „Genieren Sie sich nicht“, sagt nämlich die Vorturnerin der Nation, „machen Sie am besten gleich mit, egal, wo Sie sich befinden!“
Zwei Minuten Abfahrtshocke
Tatsächlich ist TV-Gymnastik so alt wie das Fernsehen selbst. Sie hat nicht nur im ORF eine lange Tradition. Ende der 1960er-Jahre – das Farbfernsehen wurde gerade eingeführt, TV war als Massenmedium etabliert – erfand der US-amerikanische Air-Force-Trainer und Sportmediziner Kenneth H. Cooper das Aerobic-Training und löste, ausgehend von den USA, einen Fitnesshype aus, der sich schon bald auf den Bildschirmen widerspiegelte. Bevor sich Jane Fonda in den 1980ern mit ihren „Workout“-Videokassetten, in denen sie in lila Legwarmers die Hüften wippen ließ, ein Millionenimperium aufbaute, und bevor auch im deutschen Fernsehen die knallbunten Elasthanbodys Einzug hielten („Enorm in Form“hieß ein Aerobic-Format im ZDF), war hierzulande Skigymnastik angesagt.
Wehe, man ging unvorbereitet auf die Piste! Ab 1977 übte man das Wedeln im Trockentraining. In der vom Bayerischen Rundfunk produzierten „Tele-Skigymnastik“(später: „Tele-Ski“) kugelten und hopsten Rosi Mittermaier, Franz Klammer, Toni Sailer und Hansi Hinterseer über den Studioteppichboden – und ganze Familien machten vor dem Fernseher mit (oder vor dem Plattenspieler, für Besitzer der entsprechenden LP). Zwei Minuten Abfahrtshocke zum Abschluss blieben niemandem erspart.
Aus der Sendung entwickelte sich in Deutschland der „Tele-Gym“, der sich bis heute gehalten hat – und mittlerweile, im Vergleich zu den knallig-vergnügten Turneinheiten von früher, geradezu bieder wirkt. Geboten wird nun Beckenbodengymnastik, Meditation, Tai-Chi: sanfte Bewegung für jedermann – auch jene, die von Jane Fondas Beweglichkeit oder den für die Skihocke nötigen Oberschenkeln nur träumen können.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte in den USA einst Richard Simmons. Der Fitnessstudiochef und spätere Talkshow-Dauergast mit einem Faible für strassbesetzte Tanktops hatte selbst mit Übergewicht zu kämpfen und richtete sich mit seinen Programmen gezielt an die noch nicht so Fitten. In seinen „Sweatin’ to the Oldies“-Videos aus den 1980ern bewegt er sich mit einer Schar durchaus dicker Mitturner in ausgebeulten Shirts zu einer Liveband. Eine ausgelassene, schwitzige Sportparty – was für ein krasser Kontrast zu den perfekt trainierten, normschönen YogaInfluencerinnen und YouTube-Fitnesstrainern in ihren sterilen Studios, die den Heimworkout-Markt heute dominieren.
Hendltanz und echte Schweißperlen
Die Lockdowns bescherten nicht nur diesen einen Push, sondern auch der klassisch-linearen TV-Turnstunde. In England reaktivierte die BBC mit „Mr. Motivator“einen Fernsehstar aus den 1990ern, der wieder in seine psychedelisch-bunten Turnanzüge schlüpfte. Unablässig quasselnd und die Zuschauer direkt ansprechend („Ben and Sheila
– I see you!“), motivierte er das britische Volk zu fröhlichen Dance-Moves: „And now, the chicken!“Eine andere Art von Charme hat „Fit mit Philipp“-Jelinek, der einen im deutschsprachigen Raum einzigartigen Erfolg hinlegte. 138.000 Menschen sahen 2023 im Schnitt zu, „die Zahl der Mitturnenden dürfte ähnlich hoch sein“, vermutet der ORF.
Vor allem sind es wohl „Best Ager“, die ihren täglichen Termin bei Philipp nicht verpassen wollen. Der 56-Jährige mit den bunten Socken zwinkert ihnen zu, er schwitzt und schnauft genauso wie sie („Herrlich, die Schweißperlen rinnen mir in die Augen!“), Wenig ist ihm peinlich, wie eine Faschingsturnstunde in Clownschminke zeigt. Wer auf seine joviale, gut gelaunte Art, seinen sanften Altenpflegertonfall anspricht („Griass eich! Ausgeschlafen, frisch und munter?“), darf darauf vertrauen, dass Philipp einen fit macht für die Skipiste, die Schmankerlwanderung, die Hürden des Alltags. Wer immer ihm als Vorturner folgen wird, wird einiges zu stemmen haben.