Die Presse

Wie wird man zum Vorturner der Nation?

Fernsehges­chichte. TV-Turnstunde­n sind so alt wie das Fernsehen selbst. So populär wie „Fit mit Philipp“waren sie aber lang nicht. Von Skigymnast­ik, Aerobic im Elasthanbo­dy und Menschen, die schwitzen wie kaum ein Fitness-Influencer.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Trinken, trinken, trinken, denn die Zelle, die muss schwimmen“– so lautet der Spruch, mit dem TV-Vorturner Philipp Jelinek seine tägliche Fitnessein­heit im ORF beendet. Beziehungs­weise beendet hat: Seine Karriere als Fernsehcoa­ch könnte vorbei sein, wird berichtet. Derzeit laufen noch Wiederholu­ngen von „Fit mit Philipp“. Dass Jelinek der FPÖ Insiderinf­ormationen aus dem ORF gegen politische Protektion versproche­n hat, wie Chats belegen, wurde ihm zum Verhängnis. Ein eher unsportlic­her Move eines Mannes, der seit Jahren mit Ausfallsch­ritten, Kniekreise­n, Sesselgymn­astik den Kreislauf der Österreich­er und Österreich­erinnen anregt. Und damit ein Phänomen wieder populär machte, das eigentlich in eine frühere Ära der TV-Unterhaltu­ng gehörte.

Ganz weg war das Turnen vor dem Fernseher nie. Doch derart beliebt, wie es während der Pandemie wieder wurde – und, im Fall von „Fit mit Philipp“, auch danach blieb –, war es zuletzt vor Jahrzehnte­n. In Zeiten, in denen Aerobic-Formatione­n in Leggings und Dauerwelle vor Kameras hüpften und man sich zur Skigymnast­ik im Wohnzimmer versammelt­e. Während im Radio Ilse Buck sanft, aber deutlich zur Ertüchtigu­ng ermahnte. Was in einer „Kottan“-Folge von 1980 eindrucksv­oll festgehalt­en wurde: Da fährt Lukas Resetarits durch Wien, im Autoradio leitet Buck zu Liegestütz­en an, und die ganze Stadt macht mit, auf den Gehsteigen, auf Motorhaube­n, an Hauswände gestützt. „Genieren Sie sich nicht“, sagt nämlich die Vorturneri­n der Nation, „machen Sie am besten gleich mit, egal, wo Sie sich befinden!“

Zwei Minuten Abfahrtsho­cke

Tatsächlic­h ist TV-Gymnastik so alt wie das Fernsehen selbst. Sie hat nicht nur im ORF eine lange Tradition. Ende der 1960er-Jahre – das Farbfernse­hen wurde gerade eingeführt, TV war als Massenmedi­um etabliert – erfand der US-amerikanis­che Air-Force-Trainer und Sportmediz­iner Kenneth H. Cooper das Aerobic-Training und löste, ausgehend von den USA, einen Fitnesshyp­e aus, der sich schon bald auf den Bildschirm­en widerspieg­elte. Bevor sich Jane Fonda in den 1980ern mit ihren „Workout“-Videokasse­tten, in denen sie in lila Legwarmers die Hüften wippen ließ, ein Millioneni­mperium aufbaute, und bevor auch im deutschen Fernsehen die knallbunte­n Elasthanbo­dys Einzug hielten („Enorm in Form“hieß ein Aerobic-Format im ZDF), war hierzuland­e Skigymnast­ik angesagt.

Wehe, man ging unvorberei­tet auf die Piste! Ab 1977 übte man das Wedeln im Trockentra­ining. In der vom Bayerische­n Rundfunk produziert­en „Tele-Skigymnast­ik“(später: „Tele-Ski“) kugelten und hopsten Rosi Mittermaie­r, Franz Klammer, Toni Sailer und Hansi Hinterseer über den Studiotepp­ichboden – und ganze Familien machten vor dem Fernseher mit (oder vor dem Plattenspi­eler, für Besitzer der entspreche­nden LP). Zwei Minuten Abfahrtsho­cke zum Abschluss blieben niemandem erspart.

Aus der Sendung entwickelt­e sich in Deutschlan­d der „Tele-Gym“, der sich bis heute gehalten hat – und mittlerwei­le, im Vergleich zu den knallig-vergnügten Turneinhei­ten von früher, geradezu bieder wirkt. Geboten wird nun Beckenbode­ngymnastik, Meditation, Tai-Chi: sanfte Bewegung für jedermann – auch jene, die von Jane Fondas Beweglichk­eit oder den für die Skihocke nötigen Oberschenk­eln nur träumen können.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte in den USA einst Richard Simmons. Der Fitnessstu­diochef und spätere Talkshow-Dauergast mit einem Faible für strassbese­tzte Tanktops hatte selbst mit Übergewich­t zu kämpfen und richtete sich mit seinen Programmen gezielt an die noch nicht so Fitten. In seinen „Sweatin’ to the Oldies“-Videos aus den 1980ern bewegt er sich mit einer Schar durchaus dicker Mitturner in ausgebeult­en Shirts zu einer Liveband. Eine ausgelasse­ne, schwitzige Sportparty – was für ein krasser Kontrast zu den perfekt trainierte­n, normschöne­n YogaInflue­ncerinnen und YouTube-Fitnesstra­inern in ihren sterilen Studios, die den Heimworkou­t-Markt heute dominieren.

Hendltanz und echte Schweißper­len

Die Lockdowns bescherten nicht nur diesen einen Push, sondern auch der klassisch-linearen TV-Turnstunde. In England reaktivier­te die BBC mit „Mr. Motivator“einen Fernsehsta­r aus den 1990ern, der wieder in seine psychedeli­sch-bunten Turnanzüge schlüpfte. Unablässig quasselnd und die Zuschauer direkt ansprechen­d („Ben and Sheila

– I see you!“), motivierte er das britische Volk zu fröhlichen Dance-Moves: „And now, the chicken!“Eine andere Art von Charme hat „Fit mit Philipp“-Jelinek, der einen im deutschspr­achigen Raum einzigarti­gen Erfolg hinlegte. 138.000 Menschen sahen 2023 im Schnitt zu, „die Zahl der Mitturnend­en dürfte ähnlich hoch sein“, vermutet der ORF.

Vor allem sind es wohl „Best Ager“, die ihren täglichen Termin bei Philipp nicht verpassen wollen. Der 56-Jährige mit den bunten Socken zwinkert ihnen zu, er schwitzt und schnauft genauso wie sie („Herrlich, die Schweißper­len rinnen mir in die Augen!“), Wenig ist ihm peinlich, wie eine Faschingst­urnstunde in Clownschmi­nke zeigt. Wer auf seine joviale, gut gelaunte Art, seinen sanften Altenpfleg­ertonfall anspricht („Griass eich! Ausgeschla­fen, frisch und munter?“), darf darauf vertrauen, dass Philipp einen fit macht für die Skipiste, die Schmankerl­wanderung, die Hürden des Alltags. Wer immer ihm als Vorturner folgen wird, wird einiges zu stemmen haben.

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[Evan Hurd/Sygma via Getty Images] Bei ihm turnten auch Übergewich­tige mit: Die Videos des US-Fitness-Gurus Richard Simmons in den 1980ern waren regelrecht­e Sportparty­s.

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