Mit TikTok, Seele und Klasse in den Jazz-Olymp
Die 24-jährige New Yorkerin Samara Joy bereichert die Welt der Jazzstandards mit komplexen Stücken von Mingus, Monk und Sun Ra. Und hat damit großen Erfolg. Nun auch in Wien.
Sie ist 24 Jahre jung und singt vertrackte Jazzmelodien, die 50 bis 70 Jahre alt sind. Mit viel Fingerspitzengefühl wählt Samara Joy Instrumentals aus einer Ära, in der das Genre noch Massenanziehung ausgeübt hat. Die Sache mit dem Alter findet sie völlig unerheblich. Und dass viele junge Menschen gar nicht mehr wissen, was Jazz ist, hält sie für reparierbar. Und tut es auf ihre Weise. Etwa, indem sie Schnipsel ihrer Kunst als TikTok-Filmchen ins Netz stellt und damit kurzfristig angesagte Konzerte schnell ausverkauft.
So kam der Erfolg schnell: Vor zwei Jahren noch unbekannt, hält Samara Joy nun bei drei Grammys. Eine beachtliche Ernte, zumal sie 2022 die Trophäe auch in der Kategorie Best New Artist bekam. Eine Ehre, die Jazzern selten zuteil wird. Zuletzt gewannen Billie Eilish und Olivia Rodrigo in dieser Kategorie. So überrascht Samara Joy über diese Anerkennung auch war, so nüchtern machte die aus der Bronx gebürtige New Yorkerin weiter. Ganz im Sinn von Ella Fitzgeralds Diktum: „The only thing better than singing is more singing.“Im Gespräch mit der „Presse“drückte Samara Joy es schlichter aus: „I’m gigin’.“Während andere über Ruhm und Strategien grübeln, zeigt sie Arbeitsethos, konzertiert rastlos in jedem Rahmen. Sie liebt ehrwürdige Orte wie das Wiener Konzerthaus, singt aber mit derselben Inbrunst auf der Wiese in der Froschau oder am Strand von Ipanema. Egal, wo, ihre elegant geführte, expressive Stimme, die wie eine gelungene Mischung aus Sarah Vaughan und Betty Carter klingt, fängt die Herzen der Hörer im Nu.
Ihr vier Oktaven durchmessendes Organ ist Basis ihres Selbstvertrauens. Es ist so stark, dass sie ihren Auftritt in Wien gleich a cappella begann. Und das mit einem hochkomplexen Stück: der Charles-Mingus-Komposition „Reincarnation of a Lovebird“. Den Text dafür hat sie selbst verfasst. Er handelt vom Finden und Verlieren, von der Liebe und dem ewigen Traum davon: „Only a dream to me you were and then you slowly slipped away.” Delikate Elegie. Das Einsetzen der Ernüchterung wurde dann von Bass und Klavier mitillustriert. „Reality’s a dream, in truth a lie, just as I close my eyes and pray for escape, I see your face.” Noch bevor sie beginnen konnte, ist die Liebesaffäre schon vorbei …
„Peace“von Horace Silver
Die Affäre mit dem Wiener Publikum hob indes gerade an. Mit jedem Lied schraubte sie sich inniger in das Gefühlsleben. In letzter Zeit singt sie immer seltener die samtigen Klassiker des Great American Songbook, interessiert sich für kompliziertere Gefühle und Akkordfolgen. So interpretierte sie neben Mingus auch Vertracktes von Monk, Sun Ra und Ornette Coleman. Bei Betty-Carter-Klassikern wie „Beware My Heart“und „Tight“zeigte sie sich als sportliche Scatterin. Noch einnehmender war, wie sie ewige Balladen wie Horace Silvers „Peace“auslotete. „Jazz is a lifelong journey“, murmelte sie zwischendurch. Um so lauter war der Jubel im Saal.