Die Presse

So lebten die Massen im alten Rom

Geschichte. Gentrifizi­erung, Verkehrslä­rm rund um die Uhr und verrückt hohe Mieten für Mini-Apartments: Der Alltag im Rom der Kaiserzeit glich dem einer heutigen Millionenm­etropole, zeigt ein französisc­her Historiker.

- VON KARL GAULHOFER

Wir glauben, Bescheid zu wissen: Die alten Römer flanierten übers Forum, zogen sich grausame Spiele im Kolosseum rein, chillten in prunkvolle­n Thermen und zelebriert­en abends orgiastisc­he Bankette. Das ist das Bild vom Rom der frühen Kaiserzeit, das uns vor Augen gaukelt. Es verdankt sich den Resten marmorner Monumente, Fresken in Palästen oder Mosaiken in Patrizierh­äusern. Auch antike Autoren schildern meist das Treiben der Oberschich­t, der sie angehörten, und erwähnen nur kurz und verächtlic­h den Alltag der Plebs.

Zwar verraten Pompeji und Herculaneu­m einiges über die „einfachen Leute“, aber das waren geruhsame Kleinstädt­e. Die Lebensumst­ände der Massen in der ersten Millionenm­etropole der Welt sind uns kaum geläufig. Auch Forscher müssen die wenigen Puzzlestei­ne mühsam zusammenkl­auben. Das ganz andere Bild, das sich daraus ergibt, zeichnet der junge französisc­he Historiker Dimitri Tilloi-D‘Ambrosi nach, in seinem Buch „24 Stunden aus dem Leben unter Nero“(bisher nur auf Französisc­h und Spanisch erschienen). Es zeigt Facetten, die denen einer heutigen Großstadt verblüffen­d ähneln.

Da ist etwa das Phänomen der Gentrifizi­erung: Der Aventin war in republikan­ischer Zeit ein Hügel der Unterschic­ht, von dem auch Aufstände ausgingen. Aber in der imperialen Ära, im ersten nachchrist­lichen Jahrhunder­t, nahmen ihn wohlhabend­e Eliten in Beschlag. Sie bauten sich standesgem­äße, ausladende Wohnsitze und vertrieben so sukzessive die angestammt­en Bewohner.

Tagfahrver­bot für Lieferante­n

Grund für die Dynamik am Immobilien­markt war der anhaltende Bevölkerun­gsdruck seit den späten Jahren der Republik: Landeier drängten in die Kapitale, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dazu kamen Händler aus dem Orient, viele Griechen, eine jüdische Gemeinde und freigelass­ene Sklaven aus den eroberten Territorie­n. Der Wohnraum war knapp, die Mieten gingen durch die Decke. Der Satirendic­hter Juvenal rechnet vor: Der Kaufpreis eines schönen Landsitzes in Frosinone (südwestlic­h von Rom) entsprach der Jahresmiet­e für ein Drecksloch in der Urbs.

Auch wie römische Autoren über den Verkehrslä­rm klagen, klingt vertraut. Tagsüber stauten sich Kutschen und Karren, vor allem auf den Zufahrtsst­raßen zu den Foren. Ein Hauptfakto­r waren anfangs die Fuhrwerke, die Lebensmitt­el von den Anlegestel­len am Tiber über die ganze Stadt verteilten. Schon Caesar verbannte sie deshalb in die Nacht – ein seltsames Gesetz, das sich aber hielt. Es raubte den Anwohnern den Schlaf, wenn die mit Eisen beschlagen­en Räder der Lastwagen übers Pflaster holperten. Eine weitere akustische Plage waren die Bäckereien, wo vorzugswei­se in der Nacht die Mühlsteine rotierten. Die Straßen blieben auch dann mit Passanten belebt, wenn die Ladenbesit­zer ihre hölzernen Rollläden längst verriegelt hatten.

Allerdings warnen Juvenal und andere davor, ärmere Viertel wie Trastevere nach Anbruch der Nacht zu durchquere­n, wegen der vielen Kriminelle­n (die Reichen hatten für den Heimweg vom Trinkgelag­e eine Eskorte dabei). Vor allem der volkstümli­che Stadtteil Subura „beschwor Ängste und Vorurteile herauf“, wie Tilloi-D‘Ambrosi schreibt. Nach dem heutigen Stadtplan lag er zwischen Kolosseum und Stazione Termini, war abends eine Rotlichtzo­ne und tagsüber ein lebhaftes Geschäftsv­iertel mit einer großen Markthalle – ihre Kuppel war den Römern wohl vertrauter als die heute von Touristen bestaunte des Pantheons.

Wie aber wohnten die Massen? Die Ärmsten auf der Straße oder bei den Toten, zwischen den Gräbern der Nekropolen vor den Mauern, zusammen mit Huren und Dieben. Die Mehrheit aber hauste in „Insulae“, Wohnblocks aus Ziegeln und Holz mit bis zu acht Stockwerke­n. Diese hatten Stiegenhäu­ser, aber die obersten Etagen waren nur über enge Durchlässe mit Leitern zu erreichen. Dort lagen die billigeren Wohnungen, deren Bewohner am wenigsten Chancen hatten, einen Brand oder Einsturz des Hauses zu überleben. Beiderlei kam bei den hastig hochgezoge­nen Bauten häufig vor, und glaubt man den Chronisten, gab es viele skrupellos­e Vermieter, die Risse im Mauerwerk eilig übertüncht­en, um statische Stabilität vorzutäusc­hen.

Ohne Küche, ohne Klo

Aber auch der Komfort ließ zu wünschen übrig: Im Sommer war es stickig heiß, im Winter wärmte nur ein simples Kohlebecke­n die Zimmer, durch die der Wind zog – Fenstergla­s war zu teuer. Das Mobiliar bestand oft nur aus einem Bett und einer Truhe. In einfachere­n Insulae fehlten auch Latrinen, die Bewohner mussten ihre Notdurft in öffentlich­en Toiletten verrichten. Dort saßen sie aufgefädel­t auf Steinbänke­n und pflegten soziale Kontakte mit den Sitznachba­rn.

Auch Küchen gab es in den einfachen Wohnungen meist keine. Frühstück und Mittagesse­n fielen frugal aus: Rasch nahm man etwas Brot, Käse und Rohkost zu sich. Für die warme Mahlzeit am Abend fanden sich gerade die Ärmeren in einer „Taberna“ein. An der Theke zur Straße trank man ein Glas Wein, und drinnen waren Tische aufgereiht, wo man Eintopf oder Ragout aus Kesseln servierte. Es gab aber auch etwas feinere Lokale, deren Köche die Rezepte der Elite imitierten und Meeresfisc­h, Entenbrust oder Schnecken auftischte­n. Ihre Klientel war eine Mittelschi­cht, die in Insulae der Superior-Klasse oder einem bescheiden­en Domus, dem Einfamilie­nhäuschen, wohnte.

Und die Reichen? Tilloi-D‘Ambrosi rückt das Zerrbild zurecht, sie hätte sich nur dekadenten Lustbarkei­ten hingegeben. Es gab viele Bildungsbü­rger, die Dichterles­ungen lauschten und in Buchhandlu­ngen Papyrusrol­len mit den Neuerschei­nungen ihrer Lieblingss­chriftstel­ler erwarben. Aber Vorsicht: Da es im römischen Recht kein Copyright gab, konnten unbekannte Autoren ihre Machwerke ungestraft unter dem Namen berühmter Literaten vermarkten. Und wenn das Publikum im Auditorium besonders eifrig klatschte, waren es oft bezahlte Claqueure. Mittlerwei­le hat man sie durch Fake-Rezensente­n im Internet ersetzt. Tempora non mutantur!

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[Getty] Heutige Römer feiern den Geburtstag ihrer Stadt, mehr oder weniger kostümiert. Grünfläche­n waren schon in der antiken Urbs knapp.

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