So lebten die Massen im alten Rom
Geschichte. Gentrifizierung, Verkehrslärm rund um die Uhr und verrückt hohe Mieten für Mini-Apartments: Der Alltag im Rom der Kaiserzeit glich dem einer heutigen Millionenmetropole, zeigt ein französischer Historiker.
Wir glauben, Bescheid zu wissen: Die alten Römer flanierten übers Forum, zogen sich grausame Spiele im Kolosseum rein, chillten in prunkvollen Thermen und zelebrierten abends orgiastische Bankette. Das ist das Bild vom Rom der frühen Kaiserzeit, das uns vor Augen gaukelt. Es verdankt sich den Resten marmorner Monumente, Fresken in Palästen oder Mosaiken in Patrizierhäusern. Auch antike Autoren schildern meist das Treiben der Oberschicht, der sie angehörten, und erwähnen nur kurz und verächtlich den Alltag der Plebs.
Zwar verraten Pompeji und Herculaneum einiges über die „einfachen Leute“, aber das waren geruhsame Kleinstädte. Die Lebensumstände der Massen in der ersten Millionenmetropole der Welt sind uns kaum geläufig. Auch Forscher müssen die wenigen Puzzlesteine mühsam zusammenklauben. Das ganz andere Bild, das sich daraus ergibt, zeichnet der junge französische Historiker Dimitri Tilloi-D‘Ambrosi nach, in seinem Buch „24 Stunden aus dem Leben unter Nero“(bisher nur auf Französisch und Spanisch erschienen). Es zeigt Facetten, die denen einer heutigen Großstadt verblüffend ähneln.
Da ist etwa das Phänomen der Gentrifizierung: Der Aventin war in republikanischer Zeit ein Hügel der Unterschicht, von dem auch Aufstände ausgingen. Aber in der imperialen Ära, im ersten nachchristlichen Jahrhundert, nahmen ihn wohlhabende Eliten in Beschlag. Sie bauten sich standesgemäße, ausladende Wohnsitze und vertrieben so sukzessive die angestammten Bewohner.
Tagfahrverbot für Lieferanten
Grund für die Dynamik am Immobilienmarkt war der anhaltende Bevölkerungsdruck seit den späten Jahren der Republik: Landeier drängten in die Kapitale, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dazu kamen Händler aus dem Orient, viele Griechen, eine jüdische Gemeinde und freigelassene Sklaven aus den eroberten Territorien. Der Wohnraum war knapp, die Mieten gingen durch die Decke. Der Satirendichter Juvenal rechnet vor: Der Kaufpreis eines schönen Landsitzes in Frosinone (südwestlich von Rom) entsprach der Jahresmiete für ein Drecksloch in der Urbs.
Auch wie römische Autoren über den Verkehrslärm klagen, klingt vertraut. Tagsüber stauten sich Kutschen und Karren, vor allem auf den Zufahrtsstraßen zu den Foren. Ein Hauptfaktor waren anfangs die Fuhrwerke, die Lebensmittel von den Anlegestellen am Tiber über die ganze Stadt verteilten. Schon Caesar verbannte sie deshalb in die Nacht – ein seltsames Gesetz, das sich aber hielt. Es raubte den Anwohnern den Schlaf, wenn die mit Eisen beschlagenen Räder der Lastwagen übers Pflaster holperten. Eine weitere akustische Plage waren die Bäckereien, wo vorzugsweise in der Nacht die Mühlsteine rotierten. Die Straßen blieben auch dann mit Passanten belebt, wenn die Ladenbesitzer ihre hölzernen Rollläden längst verriegelt hatten.
Allerdings warnen Juvenal und andere davor, ärmere Viertel wie Trastevere nach Anbruch der Nacht zu durchqueren, wegen der vielen Kriminellen (die Reichen hatten für den Heimweg vom Trinkgelage eine Eskorte dabei). Vor allem der volkstümliche Stadtteil Subura „beschwor Ängste und Vorurteile herauf“, wie Tilloi-D‘Ambrosi schreibt. Nach dem heutigen Stadtplan lag er zwischen Kolosseum und Stazione Termini, war abends eine Rotlichtzone und tagsüber ein lebhaftes Geschäftsviertel mit einer großen Markthalle – ihre Kuppel war den Römern wohl vertrauter als die heute von Touristen bestaunte des Pantheons.
Wie aber wohnten die Massen? Die Ärmsten auf der Straße oder bei den Toten, zwischen den Gräbern der Nekropolen vor den Mauern, zusammen mit Huren und Dieben. Die Mehrheit aber hauste in „Insulae“, Wohnblocks aus Ziegeln und Holz mit bis zu acht Stockwerken. Diese hatten Stiegenhäuser, aber die obersten Etagen waren nur über enge Durchlässe mit Leitern zu erreichen. Dort lagen die billigeren Wohnungen, deren Bewohner am wenigsten Chancen hatten, einen Brand oder Einsturz des Hauses zu überleben. Beiderlei kam bei den hastig hochgezogenen Bauten häufig vor, und glaubt man den Chronisten, gab es viele skrupellose Vermieter, die Risse im Mauerwerk eilig übertünchten, um statische Stabilität vorzutäuschen.
Ohne Küche, ohne Klo
Aber auch der Komfort ließ zu wünschen übrig: Im Sommer war es stickig heiß, im Winter wärmte nur ein simples Kohlebecken die Zimmer, durch die der Wind zog – Fensterglas war zu teuer. Das Mobiliar bestand oft nur aus einem Bett und einer Truhe. In einfacheren Insulae fehlten auch Latrinen, die Bewohner mussten ihre Notdurft in öffentlichen Toiletten verrichten. Dort saßen sie aufgefädelt auf Steinbänken und pflegten soziale Kontakte mit den Sitznachbarn.
Auch Küchen gab es in den einfachen Wohnungen meist keine. Frühstück und Mittagessen fielen frugal aus: Rasch nahm man etwas Brot, Käse und Rohkost zu sich. Für die warme Mahlzeit am Abend fanden sich gerade die Ärmeren in einer „Taberna“ein. An der Theke zur Straße trank man ein Glas Wein, und drinnen waren Tische aufgereiht, wo man Eintopf oder Ragout aus Kesseln servierte. Es gab aber auch etwas feinere Lokale, deren Köche die Rezepte der Elite imitierten und Meeresfisch, Entenbrust oder Schnecken auftischten. Ihre Klientel war eine Mittelschicht, die in Insulae der Superior-Klasse oder einem bescheidenen Domus, dem Einfamilienhäuschen, wohnte.
Und die Reichen? Tilloi-D‘Ambrosi rückt das Zerrbild zurecht, sie hätte sich nur dekadenten Lustbarkeiten hingegeben. Es gab viele Bildungsbürger, die Dichterlesungen lauschten und in Buchhandlungen Papyrusrollen mit den Neuerscheinungen ihrer Lieblingsschriftsteller erwarben. Aber Vorsicht: Da es im römischen Recht kein Copyright gab, konnten unbekannte Autoren ihre Machwerke ungestraft unter dem Namen berühmter Literaten vermarkten. Und wenn das Publikum im Auditorium besonders eifrig klatschte, waren es oft bezahlte Claqueure. Mittlerweile hat man sie durch Fake-Rezensenten im Internet ersetzt. Tempora non mutantur!