Herrn Leitls Liebe zu Europa
Ein Plädoyer des lang amtierenden Chefs der Wirtschaftskammer.
In der Nacht vom 13. auf den 14. September 1979 kam der damals 30-jährige Unternehmer Christoph Leitl vor seinem Heim auf dem Linzer Pöstlingberg an. Vier Maskierte mit Sprengstoffgürteln stürzten sich mit vorgehaltener Pistole auf den reichen Erben der florierenden LeitlWerke. Ganz im Stil der bundesdeutschen RAF wollten sie offenbar den Unternehmersohn entführen. Obwohl ihm ein Pistolenknauf auf den Hinterkopf donnerte, gelang es Leitl zu fliehen und um Hilfe zu schreien. Die Täter flüchteten. Einer konnte später gefasst werden, wurde mehrmals vom Opfer im Gefängnis besucht und bekam letztlich einen Job im Leitl-Konzern (Baustoffhandel und -produktion).
Es ist zweifellos die spannendste Story im abwechslungsreichen Leben des Linzer ÖVP-Politikers, der zunächst Geschäftsführer des elterlichen Betriebs, dann Wirtschaftslandesrat in Oberösterreich wurde, um schließlich als langjähriger Präsident der Wirtschaftskammer in Wien zu wirken. Sein jüngstes Buch, das er sich zum 75. Geburtstag selbst schenkt, ist ausschließlich Europa gewidmet. Wer sich also Memoiren herkömmlicher Art verspricht, womöglich gar eine Plauderei aus dem Nähkästchen, Triumphe und Eklats im Leben eines ÖVP-Politikers, der hat das falsche Buch gekauft. Dabei wäre es verlockend, die Lebensspur dieses Insiders nachzuzeichnen, der bei allen Irrungen und Wirrungen seiner Partei zwar dabei war, aber stets – wie sein Nachfolger Mahrer – vom sicheren Ufer zusah, wenn die Stromschnellen über den Köpfen unseliger Parteipolitiker wieder einmal zusammenschlugen.
Nein, von ÖVP-Politik ist hier kein Wort. Leitl erzählt von seiner Europa-Begeisterung als Gymnasiast, die ihm die Matura sicherte – trotz schwacher mathematischer Nachweise. Begeistert ist er auch heute noch, was man ihm als Präsident der Europäischen Wirtschaftskammer auch nicht verdenken mag. Dass „Europa“für ihn ganz selbstverständlich die Europäische Union ist, das wird in diesem Zusammenhang nicht verwundern. Daher fällt auch die Beurteilung des Brüsseler Apparats äußerst warmherzig aus, kein Wort der Kritik.
Der Rat des Experten
Und welche Heilmittel hat dieser erfahrene Altpolitiker für „Europa“seiner Begrifflichkeit? Etwa bei der Migration? „… ist ein europäischer Aktionsplan notwendig. Er muss vor allem den Menschen in Europa das Gefühl geben, dass sie mitgenommen werden.“Denn, so Leitl, „auf diese Weise sind sie vor den Angstparolen der Demagogen besser geschützt“.
Auch für das internationale Finanzsystem hat der Experte einen guten Tipp: Es benötige „einen Ordnungsrahmen, der die überbordende internationale Finanzspekulation in die Schranken weist“. Zurück zum Primat der Realwirtschaft vor der Finanzwirtschaft!
Wer so lang wie Christoph Leitl einer gutgepolsterten Kammer-Bürokratie vorstand, hat für den EU-Apparat folgenden Vorschlag: „25 Prozent weniger Bürokratie! Konkrete und praxisrelevante Vorschläge dazu gibt es, sie gehören umgesetzt.“
Der Europarat wäre nach Leitls Sicht das ideale Forum, in dem „die Staaten Europas, aber auch Länder wie Großbritannien, die Türkei, die Ukraine, die Schweiz und Norwegen“in einem europäischen Sicherheitsrat zusammenarbeiten könnten.
Die Liebeserklärung des Ex-Präsidenten an Europa ist durchaus sympathisch. Und zweifellos ehrlich. Und sie kommt zur rechten Zeit.