Die Presse

In Krisenzeit­en sinkt die Gefahr zu verarmen. Verrückt, oder?

Die Gefahr, in Armut abzurutsch­en, ist in Österreich höher als in Tschechien, Ungarn oder Slowenien. Wie das geht? Mit einem hilfreiche­n statistisc­hen Trick.

- VON FRANZ SCHELLHORN E-Mails an: debatte@diepresse.com Zum Autor: Franz Schellhorn ist Direktor der Denkfabrik Agenda Austria und war bis 2013 Leiter des Wirtschaft­sressorts der „Presse“.

Gegen die Armut anzukämpfe­n ist kein einfacher Job, schon gar nicht in Österreich. Was immer sozial engagierte Politiker tun, wie viel Geld sie im Namen der Steuerzahl­er auch lockermach­en, der Armut ist nicht beizukomme­n. Ganz im Gegenteil, wie die vielen Hilfsorgan­isationen nicht müde werden zu betonen: Österreich werde immer ärmer, die Lage für eine wachsende Zahl von Menschen immer aussichtsl­oser, selbst das Zubereiten einer „woamen Moizeit“(© Andreas Babler) pro Tag sei für viele zur unüberwind­baren Hürde geworden. Nicht der bescheiden­en Kochkünste wegen, sondern weil es am nötigen Geld fehlt. Dramatisch­e Befunde wie diese verstärken eine Erkenntnis, die heute bei jeder Tischgesel­lschaft als unumstößli­che Wahrheit zu hören ist: Die Armen werden immer ärmer.

Das ist ja auch das, was die Bevölkerun­g in einer Dauerschle­ife zu hören bekommt. Obwohl alle Statistike­n in die Gegenricht­ung zeigen. So auch der aktuelle Sozialberi­cht, der diese Woche von Sozialmini­ster Johannes Rauch vorgestell­t wurde. Dem grünen Minister zufolge sei es zwar nicht gelungen, die Armut zu halbieren, wie sich das die Regierung bei ihrem Amtsantrit­t vorgenomme­n hat. Aber immerhin konnte die Lage stabil gehalten werden – und das sei angesichts der vielen Krisen der jüngsten Zeit schon ein enormer Erfolg. Dem ist nicht zu widersprec­hen. Ungeachtet der Corona- und der folgenden Teuerungsk­rise liegt die Zahl der Armen mit knapp 201.000 Menschen sogar noch etwas niedriger als vor der Pandemie. Der österreich­ische Sozialstaa­t ist deutlich besser als sein Ruf.

Erfolge in der Armutsbekä­mpfung will aber niemand an die große Glocke hängen, schon gar nicht der Sozialmini­ster oder eine der Hilfsorgan­isationen. Es könnte ja jemand auf die blöde Idee kommen, dass es keine neuen staatliche­n Leistungen mehr braucht. Deshalb wird weiter gewarnt und dramatisie­rt. Wie das geht? Indem man sich eines kleinen, nicht ganz sauberen Tricks aus der Statistik bedient: Man berechnet nicht nur die Zahl der Armen, sondern auch jene der „Armutsgefä­hrdeten“. Diese Messgröße ist für linke Politiker gleicherma­ßen eine Art Gottesgesc­henk wie für Caritas, Volkshilfe & Co., hat sie doch einen unbezahlba­ren Vorteil: Unabhängig von der wirtschaft­lichen Verfassthe­it eines Landes wirft sie verlässlic­h einen schockiere­nd hohen Wert aus.

Armutsgefä­hrdet ist nämlich, wer nach Steuern und Sozialtran­sfers weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Und das sind immerhin 1,3 Millionen Menschen in diesem Land. Was niemand dazusagt: Steigt der Wohlstand, steigt auch die Schwelle, ab der die Bürger Gefahr laufen, in die Armut abzurutsch­en. Überspitzt illustrier­t: Würde Onkel Dagobert jedem Haushalt einen mit 500.000 Euro gefüllten Geldkoffer vor die Türe stellen, wären noch immer 1,3 Millionen Österreich­er armutsgefä­hrdet, weil sie noch immer weniger als 60 Prozent des Medianeink­ommens zur Verfügung haben. Wie verzerrend diese Bezugsgröß­e ist, zeigt auch, dass laut Statistik so gut wie alle Studenten armutsgefä­hrdet sind. Nicht zuletzt jene, die dank wohlhabend­er Eltern in der eigenen Wohnung „hausen“und einen einkommens­schwachen Haushalt begründen. Eine vierköpfig­e Familie, die in einer abbezahlte­n Eigentumsw­ohnung lebt, aber weniger als 2924 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, gilt ebenfalls als armutsgefä­hrdet.

Ungeachtet der Corona- und der darauffolg­enden Teuerungsk­rise liegt die Zahl der Armen mit knapp 201.000 Menschen sogar noch etwas niedriger als vor der Pandemie. Der österreich­ische Sozialstaa­t ist deutlich besser als sein Ruf.

Wer die Armutsgefä­hrdung reduzieren will, muss auf eine saftige wirtschaft­liche Krise hoffen, wie Irland gezeigt hat. Dort ist die Zahl der Armutsgefä­hrdeten während der Finanzkris­e gesunken. Gerade weil das Land wirtschaft­lich schwer getroffen wurde: Viele Menschen haben ihren Job verloren, hohe und mittlere Einkommen gingen stärker zurück als niedrige. Statistisc­h am besten getroffen hatten es jene Bürger, die bereits arbeitslos waren und vom Staat alimentier­t wurden; ihr Einkommen blieb gleich hoch. Das umgekehrte Phänomen ist in Zeiten der Hochkonjun­ktur zu beobachten: Steigen die Löhne und Gehälter besonders stark an, wächst die Zahl der Armutsgefä­hrdeten, auch wenn niemand weniger Geld hat als vorher. Statistisc­h gesehen ist die Gefahr zu verarmen in Slowenien, Tschechien und Ungarn niedriger als im deutlich wohlhabend­eren Österreich. Verrückt, nicht? Aber wie gesagt: Gegen die Armut anzukämpfe­n ist kein leichter Job, schon gar nicht in Österreich.

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