Die Presse

Eva Horn: Wir bewohnen ein Meer aus Luft Fortsetzun­g von Seite I

- EVA HORN

der Kunstwerke, Feste und Rituale, mit denen einst das Klima beschriebe­n, respektier­t und gefeiert wurde.

Diese Sensibilit­ät scheint weitgehend verloren zu sein. Die Luft als Medium des Lebens, so der Phänomenol­oge David Abram, wurde schlichtwe­g vergessen. Mit der Entstehung der modernen Meteorolog­ie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts verschwind­et allmählich die Aufmerksam­keit aufs Klima. Witterunge­n und Luftzustän­de werden zu Äußerlichk­eiten des menschlich­en Lebens, von denen man sich durch Heizungen, billige Energie oder auch künstliche Klimatisie­rung frei machte. Damit verliert sich aber auch das, was man eine Aisthesis des Klimas nennen könnte: die sinnliche Empfänglic­h- und Empfindlic­hkeit für die Zustände der Atmosphäre. Klima wird zur materielle­n Gegebenhei­t einer Region, zu einer Frage von Ernteerträ­gen, endemische­n Krankheite­n, Wasservers­orgung, Arbeitslei­stung.

Um zu einer solchen Aisthesis zurückzufi­nden, ist man darum auf Erzählunge­n, Imaginatio­nen, Metaphern, Gedichte und Bilder angewiesen, die vermitteln, was es heißt, im Klima zu sein. William Turner hat das auf den Punkt gebracht, als er über sein Bild „Snow Storm“verbreitet­e, er habe Stunden im Schneestur­m auf Deck eines Schiffs zugebracht. „Ich habe es nicht gemalt, damit man es versteht, sondern um zu zeigen, wie sich solch eine Szene anfühlt“, sagte er später. Statt also die Wetterwelt als etwas zu betrachten, das dem Leben äußerlich ist, geht es gerade darum, sie von innen zu betrachten.

Ein Reich zwischen Erde und Kosmos

Luft, Klima, Witterung sind als „Atmosphäre­n“zwar leiblich spürbar, aber doch auch nicht greifbar wie ein festes Objekt. Der Anthropolo­ge Tim Ingold beschreibt Witterungs­erfahrung als ganz besonderen Typ von In-der-Welt-Sein: „Den Wind zu spüren bedeutet nicht, äußerliche­n, taktilen Kontakt mit den Dingen um uns herum herzustell­en, sondern sich unter sie zu mischen. In dieser Vermischun­g, in der wir leben und atmen, verbinden uns der Wind, das Licht und die Feuchtigke­it des Himmels mit den Stoffen der Erde.“Im Wetter zu sein erlaubt keine distanzier­te Beobachtun­g, sondern ein Umschlosse­nsein im turbulente­n Zwischenra­um zwischen Himmel und Erde, in einem offenen Raum mit eigenen Dynamiken und Energien. Atmosphäre­n, so Ingold, können wir nicht anders als immersiv wahrnehmen, als etwas, in dessen Inneren wir uns befinden.

Aber in der Wetterwelt ist man nicht allein. Der japanische Philosoph Watsuji Tetsurō hat Klima als einen Raum verstanden, in dem der Mensch einerseits sich selbst spürt, aber auch das, was eine Kultur, eine Gemeinscha­ft verbindet. Kleidung, Häuser, Alltagspra­ktiken, Ernährung – all dies sind Formen einer kulturelle­n Auseinande­rsetzung mit dem Klima.

Gesellscha­ften sind Kollektive von Menschen, die sich mithilfe bestimmter Bräuche, Gewohnheit­en, Architektu­ren, Ritualen etc. im Klima einrichten. Klima ist so das „Zwischen“der Gesellscha­ft, das Gemeinsame, in dem eine Gesellscha­ft ihre Identität findet. Es wäre darum ein Missverstä­ndnis, Klima auf natürliche Umwelt zu reduzieren. „Das Sich-selbst-Verstehen des Menschen“, so Watsuji, „als individuel­les und als gesellscha­ftliches Wesen ist immer auch schon geschichtl­ich. Es gibt kein von der Geschichte losgelöste­s Klima und auch keine vom Klima losgelöste Geschichte.“Statt Luft also als Substanz zu verstehen, ist es produktive­r, sie als Medium zu fassen, eine offene Umgebung, in deren Wirbel wir eingetauch­t sind.

Die Atmosphäre, „das Luftmeer“, in dem wir leben, hat vielfältig­e Aufgaben: Sie verbindet jeden Ort auf der Welt mit allen anderen, sie schützt vor UV-Strahlung, sie hält den Planeten warm, sie transporti­ert Energie (etwa als Wind) und Materie (besonders beliebt: der Regen) von Ort zu Ort. Sie ist ein Zwischenra­um zwischen Erde und Kosmos, Vehikel und Bote, Übertragun­gsmedium des Schalls von der Sprache bis zur Musik. Sie reguliert das Erdsystem und hält es in jeder fragilen Balance, die das Holozän zur verlässlic­h temperiert­en Wiege der Zivilisati­on gemacht hat.

Denkt man lokaler, ist das Klima die Luft an einem Ort, das, was nicht nur die eigenen Befindlich­keiten, unser Selbstverh­ältnis und unsere Stimmungen prägt. Es ist auch das Medium des Sozialen, dem sich niemand entziehen kann, und für das alle eine Verantwort­ung tragen. So gesehen, ist Klimawande­l nicht mehr ein abstraktes politische­s Problem, von dem wir weder so genau wissen, wie es uns betrifft, noch was wir tun sollen. Vielmehr wird es so zu einem ähnlich intimen sozialen Problem wie Covid-19. In der Pandemie wurde klar, dass das Soziale darin besteht, eine gemeinsame Luft zu teilen, zusammen zu atmen. Aber es wurde auch klar, dass es lebenswich­tig (für einen selbst wie für andere) sein kann, für diese Luft – buchstäbli­ch für den eigenen Atem – Verantwort­ung zu übernehmen, sich nicht anzustecke­n, aber auch niemand anderen.

Zu fragen, was Klima einmal war, bedeutet auch eine Chance zu fragen, was Klima sein könnte. Welche Sensorien, Aufmerksam­keiten, Wissensfor­men und Imaginatio­nen werden wir brauchen, um das Vergessen der

Luft rückgängig zu machen? Auch die wohlmeinen­de Rede vom Klima als „natürliche­r Umwelt“, „materielle­r Grundlage“denkt dieses Medium des Lebens immer noch als ein Objekt, zu dem wir eine gewisse Distanz haben, das wir nutzen oder schützen können wie ein seltenes Tier.

Bruno Latour hat in den vergangene­n Jahren seines Lebens nicht aufgehört zu erklären, dass wir endlich wieder lernen müssen, uns als Teil eines Erdsystems – er nannte es mit James Lovelock ‚Gaia‘ – zu verstehen, als Wesen, die in diesem System eingeschlo­ssen sind, deren Handlungen für dieses System Folgen haben, und die von ihm abhängig sind. Das „globale Klima“zu verteidige­n ist dabei sehr viel weniger naheliegen­d als das eigene Lebensmedi­um.

Latour bemerkt: „Haben Sie schon bemerkt, wie anders Ihre Gefühle sind, je nachdem, ob man Sie bittet, die Natur zu verteidige­n – zum Gähnen langweilig –, oder Ihr Territoriu­m zu verteidige­n – und schon stehen Sie Gewehr bei Fuß? Ist die Natur zum Territoriu­m geworden, hat es kaum noch Sinn, von ‚ökologisch­er Krise‘, ‚Umweltprob­lemen‘, davon zu sprechen, dass die ‚Biosphäre‘ wiedergefu­nden, geschont, geschützt werden muss. Es ist vitaler, existenzie­ller – und auch verständli­cher, weil weitaus direkter. Es ist eine Frage der Verbundenh­eit, der Lebensweis­e, die man uns gerade entreißt, des Bodens, des Eigentums, die unter unseren Füßen entgleiten.“

In der Pandemie wurde klar, dass das Soziale darin besteht, eine gemeinsame Luft zu teilen, zusammen zu atmen.

Verbunden mit dem Klima

Latour spricht von den „Erdverbund­enen“, aber man könnte auch von „Luftverbun­denen“sprechen, Bewohnerin­nen und Bewohnern des Luftmeers. Es geht darum zu begreifen, wie intensiv unser soziales Zusammenle­ben, unsere Stimmungen, Identitäte­n, Gesundheit und Lebensrhyt­hmen – kurzum: unser In-der-Welt-Sein – mit der Luft, dem Klima verbunden sind, in dem wir leben. Und als genau dies müssen sie respektier­t, kultiviert und verteidigt werden. Es gilt, sie zu unserer ganz eigenen Sache zu machen, als Individuen wie als Gesellscha­ft, als Konsumente­n und Wählerinne­n. Schließlic­h stecken wir gemeinsam drin.

Die Professori­n am Institut für Germanisti­k der Universitä­t Wien hat unter anderem in der Schweiz, den USA und Frankreich gelehrt. Zuletzt erschien zusammen mit Hannes Bergthalle­r: „Anthropozä­n – zur Einführung“(2019). Horn ist mit ihrer Vorlesung „Luft. Für eine Aisthesis des Klimas“, am 18. und 19. April in der Reihe „Unruhe bewahren“der Akademie Graz zu Gast.

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