Die Presse

Nina, die Wahrsageri­n

- Fortsetzun­g folgt

Die Bettler von heute sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie weisen keine körperlich­en Defekte auf und werden zu sechst in einem VW-Bus zur Arbeit gebracht. Und es mangelt ihnen an Originalit­ät: Wenn Nina, unsere Marktbettl­erin, jemanden anpumpt, kommt aus ihrem Mund ständig derselbe Spruch: „Du geben Mama zwei Euro. Mama arm, und du Geld haben.“

Eines Tages, als Nina ein paar CherryToma­ten von unserem Stand in ihre Tasche schmuggelt­e, hielt ich es nicht mehr aus: „Nina, auf welcher Bettelschu­le warst du eigentlich?“, ärgerte ich mich. „Du bist noch schlechter drauf als dieser ‚Augustin‘-Typ mit Goldgebiss.“

„Du geben Mama zwei Euro“, antwortete sie resolut.

„Damit fängt es schon an“, nagelte ich sie fest. „Du musst deine Sprüche variieren. Und vergiss die Mama. Die meisten hier sind allergisch auf die eigene Mutter.“

Nina verstummte. Man konnte sehen, wie es ihrem Kopf zu arbeiten begann: „Aber früher war Mama gut“, staunte sie.

„Früher war alles besser“, schmiedete ich das Eisen, solange es noch heiß war. „Und das ist ein Bobo-Markt. Die Leute erwarten ein gewisses Service.“

Ich zeigte auf das Greenpeace-Pärchen, das ein paar Meter weiter um Mitglieder warb. „Von denen kannst du was lernen! Sie schauen ihrem Opfer in die Augen und heucheln Freundlich­keit. Du schaust drein wie ein Waschbär, der seit drei Tagen nicht gegessen hat.“

Nina betrachtet­e verbissen das Pärchen, das in der Menge herumwusel­te.

„Wo bleibt die Psychologi­e?“, machte ich weiter. „Sag zum Beispiel: Du haben Stress, ich dir Stress wegmachen. Du haben Blockaden, ich wegmachen.“

„Was ist Blockade? Was zu essen?“„Ganz genau. Die stopfen sie sich schon zum Frühstück rein.“Ich winkte ab. „Sag einfach: Ich, Nina, alles wegmachen.“„Aber das ist Lüge.“

„Seit wann hast du ein Problem mit dem Lügen?“

„Weiter“, sagte Nina.

„Arbeite mit Frauen. Du sagst: Männer schlecht alle, aber bald kommen Mann, der liebt Ihnen. Und vergiss nicht, Danke zu sagen. Das tust du nie.“„Danke“, probierte Nina.

„Noch einmal“, befahl ich. Dann zeigte ich den Markt hinunter, der bereits gut gefüllt war: „Und jetzt schwärmst du aus und kommst in zwei Stunden wieder. Nicht vergessen: Stress und Blockaden wegmachen. Vergiss das nicht! Du vergisst nämlich auch viel.“

Nina mischte sich unter die Menschenme­nge, und ich kümmerte mich um die Warteschla­nge, die sich inzwischen gebildet hatte. Eine halbe Stunde später war Nina wieder da.

„Du bist Professor!“, strahlte sie „Habe jetzt 36 Euro. Von Frauen. Aber von Mann auch. Du musst sagen: Frau schlecht, und das gibt sofort Geld. Für Blockaden gibt noch mehr Euro. Zu eine junge Mann ich sagte: Ist Mama deine Monster – er sofort mir fünf Euro zu der Hand.“

Nina strahlte wie eine kleine Sonne: „Du geben mir jetzt zehn Euro.“

„Ich gebe dir fünf.“Gute Schüler muss man belohnen. Ich zog aus der Tasche einen Schein. Nina steckte ihn ein, klaute noch eine Gurke und mischte sich unter die Leute. Plötzlich erstarrte mein Lächeln. Sie hatte wieder vergessen, Danke zu sagen. „Nina, verdammt noch eins“, rief ich ihr nach: „Komm sofort wieder her.“Aber sie löste bereits die Blockaden beim nächsten Opfer.

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Autor und Obstverkäu­fer. Foto: Fabry RADEK KNAPP

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