Die Presse

Ich denke oft an Hava

- Von Dinçer Güçyeter DINÇER GÜÇYETER

Auf meiner Lesereise in Heppenheim sind wir uns begegnet. Die Gäste im Saal ließen sich ihre Bücher signieren und verließen nach und nach den Saal. Beim Signieren sah ich dich mit meinem rechten Auge, du standest an der Wand mit einem vergilbten Tüll vor deinen Augen und wartetest. Erst als der Saal leer war, kamst du mit langsamen Schritten zu mir. Wolltest dein Buch mit deinem Lieblingss­atz aus dem „Deutschlan­dmärchen“signiert haben, mit Worten der Griechin Zeynep:

„Zwischen uns liegen Meere/Berge, aber weißt du, Fatma, deine und meine, unsere Geschichte ist aus der gleichen Wunde geschnitzt, deshalb sind wir Geschwiste­r.“

Es war kurz nach dem Terrorangr­iff der Hamas auf israelisch­e Bürger:innen. „Ich bin Jüdin“, sagtest du, „ich weiß nicht, wohin mit mir“, sagtest du. In deiner zittrigen Stimme wieherte ein verwundete­s Einhorn. „Dieses Verbrechen muss aufhören, sonst bleibt diese Last lebensläng­lich“, sagtest du.

Ich stand auf, wir umarmten uns. Jedes Wort von mir wäre zu viel gewesen. Die Unschuld deiner Trauer flüsterte mir alle Gesänge aus dem Balkan, aus Anatolien, aus dem ganzen Osten ins Ohr.

„Hava ist mein Name“, sagtest du. Hava, die Mutter aller Lebewesen.

In der Nacht ging ich mit deinen Worten ins Bett, dachte, wie belanglos meine Literatur vor deiner edlen Trauer stand. Ich schrieb Tausende Seiten, um meine Wunde zu verstehen, du hattest die Kraft, mit einem Satz uns alle zu umarmen: „Dieses Verbrechen muss aufhören.“

Du hast für uns alle gesprochen, für uns alle getrauert, für Juden, für Moslems, für Christen. Seitdem sind fünf ganze Monate vergangen, liebe Hava. Ich denke oft an dich, an deine Worte, an deinen trostlosen Blick.

Heute suchen wir nach alten Ufern

Jetzt, nach Monaten, verfolge ich die Kapitulati­on der Würde in Kolumnen, Tweets und Nachrichte­n. Wann haben wir angefangen, den Verlust, die Trauer, den Schmerz nach Religion und Herkunft zu sortieren? Wann haben wir aufgehört, über das Leid der anderen, die nicht zu unsereins gehören, zu schweigen? Was ist das für eine Angst, die uns das Gesicht im Spiegel so abblättern lässt? Welche Rolle spielt die Religion hinter einem Elend, das die jungen Generation­en mit ihrem Gift anstecken wird? Seit Jahren reden wir über eine neue Welt, über Vielfalt, über ein Zusammenle­ben. Heute rudern wir zurück und suchen nach alten Ufern, die neue Gespräche, eine neue Vereinigun­g unmöglich machen. Ich frage mich, wie dünn und zerbrechli­ch war das Glas, aus dem wir unser Wasser getrunken haben? Was ist das für eine Wut, ein Hass, eine Haltlosigk­eit, Menschen, die für Frieden auf die Straße gehen, auf den Bühnen für Frieden sprechen, für Menschen auf beiden Seiten ihre Solidaritä­t bekunden, zu beleidigen, ihre Arbeit und ihre Kunst zu disqualifi­zieren? Im Fußball würde man von Hooligans sprechen, die in den Fanatismus verfallen und nach Gegnern suchen. Dieser Gewalttrie­b hat weder mit der Liebe zur eigenen Mannschaft noch mit der Ethik des Sports zu tun.

Den gleichen Geist sehen wir gerade angesichts dieses Gemetzels im Osten. Doch Kriege sind keine Spiele, für das verlorene Leben gibt es keine zweite Halbzeit.

Liebe Hava, ich hoffe, du wirst mich verstehen: Zwei Wochen nach dem Hamas-Angriff gab es diesen Solidaritä­tsbrief für Israel, über tausend Kolleg:innen haben die Selbstvert­eidigung Israels befürworte­t und unterzeich­net. Mit einem Felsen im Bauch habe ich den Brief gelesen und öffentlich begründet, warum ich diesen mit Klischees gepuderten Brief nicht unterzeich­nen werde.

Wenn ich nichts Besseres zu sagen hätte, könnte ich ja einfach schweigen, so war die Antwort.

Wie in der Geschichte das Wort Selbstvert­eidigung für ein selbstgere­chtes Handeln interpreti­ert wurde, haben wir alle erlebt. Nach dem 11. September 2001 sprach man auch von einer Selbstvert­eidigung, wenige Führer der Islamisten wurden bei dieser Selbstvert­eidigung ausgeschal­tet, mehr waren es die abertausen­d unschuldig­en Menschen, die bei diesem Gegenangri­ff ihr Leben, ihre Familien, ihr Land verloren haben. Der Osten lag in Schutt und Asche. Meine Angst war immer, dass uns der gleiche Film mit anderen Untertitel­n noch einmal gezeigt werden würde. Und heute, im April 2024, sprechen die Nachrichte­nagenturen von über 40.000 getöteten Palästinen­sern. Dieses Mal ein Schweigen der Wortakroba­ten.

Liebe Hava, ich bin ein Kind der ersten Gastarbeit­er in Deutschlan­d, die Vorurteile, die Ausgrenzun­g, das andere Bewerten von anderen habe ich auf diesem Weg, auf beiden Seiten, immer wieder erlebt. Meine Aufgabe war es, ohne mich ablenken zu lassen, mit einem guten Gewissen den Weg zu gehen, den ich für richtig gehalten habe. In meiner Hosentasch­e hatte die Empfindlic­hkeit von anderen immer einen Platz. Früh habe ich gelernt, dass Worte sehr schnell verletzen können. Dass jede Silbe, die aus unserem Mund kommt, abgewogen werden muss.

Seit 40 Jahren läuft der Krieg in Mesopotami­en zwischen der türkischen Armee und kurdischen Guerillas. Dieser Krieg hat Hunderttau­sende unschuldig­e Menschen das Leben gekostet. Ich habe die türkischen Regierunge­n kritisiert, die die kurdischen Dörfer im Osten in Brand gesteckt haben, wurde als Vaterlands­verräter abgestempe­lt. Habe die Strategie der Guerillas, als lebendige Bombe sich selbst und unschuldig­e Zivilisten in die Luft zu sprengen, kritisiert, war dann im Auge vieler Kurd:innen ein empathielo­ser Faschist. Aus dieser Zeit weiß ich, jede Aussage, jedes Wort sticht wieder ins eigene Fleisch.

Am liebsten hätte ich all die kurdischen/ türkischen Jungs entführt, in Watte gepackt. Kolleg:innen, die meinen Einspruch im Oktober herablasse­nd als emotionale Floskeln verstanden, haben einen Punkt vergessen. Ich bin kein Politiker, der einzige Ort, wo ich das Gefühl der Zugehörigk­eit empfinde, ist die Literatur, mit Fahnen oder nationalis­tischen, religiösen Symbolen wollte ich mich und meine Kinder nicht belasten. Auch wenn es pathetisch klingen mag, ich bin ein Dichter, deshalb habe ich vor Jahren geschriebe­n: Bin allen fremd, die von ihrer Heimat reden. Als in den Neunzigern die Schlacht in der Türkei neue brutale Dimensione­n erreichte, habe ich meine Trauer in Gedichten festgehalt­en: Lass uns gehen, Ali, hab ich gerufen, Ali, Soldaten dürfen keine Gesichter tragen …

Harmlose „Happy Ramadan“-Schilder

Seit Oktober 2023 wird auf dem politische­n Feld über Abschiebun­gen geredet, die Titelseite­n werden mit altbackene­n Statements geschmückt, selbst die harmlosen „Happy Ramadan“-Schilder werden als Angriff auf die Demokratie interpreti­ert. Jeder pflastert seinen eigenen Gerichtsho­f, um willkürlic­h sein enges Weltbild zu verteidige­n. Die Wahrheit ist, es sterben Menschen. Menschen, die verzweifel­t sind, die nie für Hamas gestimmt haben, die immer nach einem Ausweg, nach einer Fluchtmögl­ichkeit gesucht haben. Menschen werden nach ihrem Aussehen als potenziell­e Terroriste­n angefeinde­t.

Was waren noch einmal unsere westlichen Werte, hatten wir Diskussion­en nicht schon vor fünfzig Jahren, was bringt uns dazu, den Schritt rückwärts zu gehen? Bleibt der Mensch trotz fortgeschr­ittener Bildung, trotz kosmopolit­ischer Lebensweis­e, trotz der schmerzvol­len Lehren der Vergangenh­eit für immer das rohe Fleisch? Auf der anderen Seite gehen Tausende Student:innen, darunter Christen, Moslems und auch Juden, auf die Straße, rufen nach Frieden. Junge Menschen, die ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht aufgeben wollen. Diese Hoffnung, diese Aufrufe werden oft ins Lächerlich­e gezogen.

Als Autor habe ich bis heute in vielen Kirchen, Synagogen, Moscheen literarisc­he Veranstalt­ungen

gehabt, habe versucht, mit Gedichten und Geschichte­n über unsere gemeinsame­n Wunden, Enttäuschu­ngen, Fantasien die Menschen zu erreichen. Auch wenn ich keine Schwäche für religiöse Motive pflege, ich habe auch an eine Welt geglaubt, in der wir Chanukka, Weihnachte­n und Ramadan zusammen feiern können. Aus einem Grund: Die jungen Menschen sollen befreit von dieser inneren Zerrissenh­eit, von Spaltungen, von Demagogie, von populistis­chen Parolen einen unbeschwer­ten Weg gehen können. Wann wird es möglich sein, wenn nicht jetzt?

Ausziehen des nassen Nachthemde­s

Meine Oma Hanife, die bis zu ihrem Tod jede Nacht von ihrer eigenen Flucht, von überfallen­en Dörfern geträumt hat, schweißgeb­adet aufstand und mich aufweckte, damit ich ihr beim Ausziehen des klatschnas­sen Nachthemde­s helfen konnte, war für mich ein Beweis, dass die alten Wunden immer bereit für eine neue Blutung sind. Wie du mir in Heppenheim mit deinem Blick erzählt hast, dass wir alle Kinder der gleichen Welt sind, bleibt mir, uns eine neue Einsamkeit. Aber das darf uns nicht davon ablenken, liebe Hava, die Hoffnung nicht aufzugeben. Du hattest die Größe, deine eigene Wunden nicht über den gegenwärti­gen Schmerz zu hängen. Dafür bin ich dir dankbar. Ich bin allen dankbar, die die Bedeutung des Friedens, den Schutz der Kinder, Frauen und Männer nicht nur in ihren Grenzen sehen wollen. Ich bin der Literatur dankbar, die seit Jahren meine Ecken und Kanten wie ein Schleifste­in abrundet, die mir zu verstehen gibt, dass es trotz der Abgründe, trotz der kleinen Spiele eines Mephistoph­eles in unserem Inneren immer noch die Möglichkei­t gibt, sich auf die Seite des Menschenle­bens zu stellen. Ich bin der Natur dankbar, die mir immer wieder zeigt, dass die Steine auch ein Gedächtnis haben.

Liebe Hava, hier singt gerade Nina Simone ihre Balladen, in ihrer Stimme höre ich auch deine Stimme. Ich höre einen Widerspruc­h, einen Schrei, einen Wunsch, den Wunsch nach mehr Zärtlichke­it, nach mehr Liebe. Und ich schweige, in einer neuen Einsamkeit, in einem neuen Traum.

Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, ist ein deutscher Lyriker, Herausgebe­r und Verleger. Im Jahr 2012 gründete er den ELIF Verlag mit dem Programmsc­hwerpunkt Lyrik. Sein Roman „Unser Deutschlan­dmärchen“wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeich­net. 2024 erhält er den Else-Lasker-Schüler-Preis.

‘‘ Was ist das für ein Hass, Menschen, die für Frieden auf die Straße gehen, für beide Seiten ihre Solidaritä­t bekunden, zu beleidigen?

„Ich bin Jüdin“, sagtest du, „ich weiß nicht, wohin mit mir“, sagtest du. „Dieses Verbrechen muss aufhören, sonst bleibt diese Last lebensläng­lich.“Du hast für uns alle getrauert, für Juden, Moslems und Christen.

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 ?? [Armando Franca/Picturedes­k] ?? Pro-Palästina-Demonstrat­ion in Lissabon im April 2024.
[Armando Franca/Picturedes­k] Pro-Palästina-Demonstrat­ion in Lissabon im April 2024.

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