Ich denke oft an Hava
Auf meiner Lesereise in Heppenheim sind wir uns begegnet. Die Gäste im Saal ließen sich ihre Bücher signieren und verließen nach und nach den Saal. Beim Signieren sah ich dich mit meinem rechten Auge, du standest an der Wand mit einem vergilbten Tüll vor deinen Augen und wartetest. Erst als der Saal leer war, kamst du mit langsamen Schritten zu mir. Wolltest dein Buch mit deinem Lieblingssatz aus dem „Deutschlandmärchen“signiert haben, mit Worten der Griechin Zeynep:
„Zwischen uns liegen Meere/Berge, aber weißt du, Fatma, deine und meine, unsere Geschichte ist aus der gleichen Wunde geschnitzt, deshalb sind wir Geschwister.“
Es war kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf israelische Bürger:innen. „Ich bin Jüdin“, sagtest du, „ich weiß nicht, wohin mit mir“, sagtest du. In deiner zittrigen Stimme wieherte ein verwundetes Einhorn. „Dieses Verbrechen muss aufhören, sonst bleibt diese Last lebenslänglich“, sagtest du.
Ich stand auf, wir umarmten uns. Jedes Wort von mir wäre zu viel gewesen. Die Unschuld deiner Trauer flüsterte mir alle Gesänge aus dem Balkan, aus Anatolien, aus dem ganzen Osten ins Ohr.
„Hava ist mein Name“, sagtest du. Hava, die Mutter aller Lebewesen.
In der Nacht ging ich mit deinen Worten ins Bett, dachte, wie belanglos meine Literatur vor deiner edlen Trauer stand. Ich schrieb Tausende Seiten, um meine Wunde zu verstehen, du hattest die Kraft, mit einem Satz uns alle zu umarmen: „Dieses Verbrechen muss aufhören.“
Du hast für uns alle gesprochen, für uns alle getrauert, für Juden, für Moslems, für Christen. Seitdem sind fünf ganze Monate vergangen, liebe Hava. Ich denke oft an dich, an deine Worte, an deinen trostlosen Blick.
Heute suchen wir nach alten Ufern
Jetzt, nach Monaten, verfolge ich die Kapitulation der Würde in Kolumnen, Tweets und Nachrichten. Wann haben wir angefangen, den Verlust, die Trauer, den Schmerz nach Religion und Herkunft zu sortieren? Wann haben wir aufgehört, über das Leid der anderen, die nicht zu unsereins gehören, zu schweigen? Was ist das für eine Angst, die uns das Gesicht im Spiegel so abblättern lässt? Welche Rolle spielt die Religion hinter einem Elend, das die jungen Generationen mit ihrem Gift anstecken wird? Seit Jahren reden wir über eine neue Welt, über Vielfalt, über ein Zusammenleben. Heute rudern wir zurück und suchen nach alten Ufern, die neue Gespräche, eine neue Vereinigung unmöglich machen. Ich frage mich, wie dünn und zerbrechlich war das Glas, aus dem wir unser Wasser getrunken haben? Was ist das für eine Wut, ein Hass, eine Haltlosigkeit, Menschen, die für Frieden auf die Straße gehen, auf den Bühnen für Frieden sprechen, für Menschen auf beiden Seiten ihre Solidarität bekunden, zu beleidigen, ihre Arbeit und ihre Kunst zu disqualifizieren? Im Fußball würde man von Hooligans sprechen, die in den Fanatismus verfallen und nach Gegnern suchen. Dieser Gewalttrieb hat weder mit der Liebe zur eigenen Mannschaft noch mit der Ethik des Sports zu tun.
Den gleichen Geist sehen wir gerade angesichts dieses Gemetzels im Osten. Doch Kriege sind keine Spiele, für das verlorene Leben gibt es keine zweite Halbzeit.
Liebe Hava, ich hoffe, du wirst mich verstehen: Zwei Wochen nach dem Hamas-Angriff gab es diesen Solidaritätsbrief für Israel, über tausend Kolleg:innen haben die Selbstverteidigung Israels befürwortet und unterzeichnet. Mit einem Felsen im Bauch habe ich den Brief gelesen und öffentlich begründet, warum ich diesen mit Klischees gepuderten Brief nicht unterzeichnen werde.
Wenn ich nichts Besseres zu sagen hätte, könnte ich ja einfach schweigen, so war die Antwort.
Wie in der Geschichte das Wort Selbstverteidigung für ein selbstgerechtes Handeln interpretiert wurde, haben wir alle erlebt. Nach dem 11. September 2001 sprach man auch von einer Selbstverteidigung, wenige Führer der Islamisten wurden bei dieser Selbstverteidigung ausgeschaltet, mehr waren es die abertausend unschuldigen Menschen, die bei diesem Gegenangriff ihr Leben, ihre Familien, ihr Land verloren haben. Der Osten lag in Schutt und Asche. Meine Angst war immer, dass uns der gleiche Film mit anderen Untertiteln noch einmal gezeigt werden würde. Und heute, im April 2024, sprechen die Nachrichtenagenturen von über 40.000 getöteten Palästinensern. Dieses Mal ein Schweigen der Wortakrobaten.
Liebe Hava, ich bin ein Kind der ersten Gastarbeiter in Deutschland, die Vorurteile, die Ausgrenzung, das andere Bewerten von anderen habe ich auf diesem Weg, auf beiden Seiten, immer wieder erlebt. Meine Aufgabe war es, ohne mich ablenken zu lassen, mit einem guten Gewissen den Weg zu gehen, den ich für richtig gehalten habe. In meiner Hosentasche hatte die Empfindlichkeit von anderen immer einen Platz. Früh habe ich gelernt, dass Worte sehr schnell verletzen können. Dass jede Silbe, die aus unserem Mund kommt, abgewogen werden muss.
Seit 40 Jahren läuft der Krieg in Mesopotamien zwischen der türkischen Armee und kurdischen Guerillas. Dieser Krieg hat Hunderttausende unschuldige Menschen das Leben gekostet. Ich habe die türkischen Regierungen kritisiert, die die kurdischen Dörfer im Osten in Brand gesteckt haben, wurde als Vaterlandsverräter abgestempelt. Habe die Strategie der Guerillas, als lebendige Bombe sich selbst und unschuldige Zivilisten in die Luft zu sprengen, kritisiert, war dann im Auge vieler Kurd:innen ein empathieloser Faschist. Aus dieser Zeit weiß ich, jede Aussage, jedes Wort sticht wieder ins eigene Fleisch.
Am liebsten hätte ich all die kurdischen/ türkischen Jungs entführt, in Watte gepackt. Kolleg:innen, die meinen Einspruch im Oktober herablassend als emotionale Floskeln verstanden, haben einen Punkt vergessen. Ich bin kein Politiker, der einzige Ort, wo ich das Gefühl der Zugehörigkeit empfinde, ist die Literatur, mit Fahnen oder nationalistischen, religiösen Symbolen wollte ich mich und meine Kinder nicht belasten. Auch wenn es pathetisch klingen mag, ich bin ein Dichter, deshalb habe ich vor Jahren geschrieben: Bin allen fremd, die von ihrer Heimat reden. Als in den Neunzigern die Schlacht in der Türkei neue brutale Dimensionen erreichte, habe ich meine Trauer in Gedichten festgehalten: Lass uns gehen, Ali, hab ich gerufen, Ali, Soldaten dürfen keine Gesichter tragen …
Harmlose „Happy Ramadan“-Schilder
Seit Oktober 2023 wird auf dem politischen Feld über Abschiebungen geredet, die Titelseiten werden mit altbackenen Statements geschmückt, selbst die harmlosen „Happy Ramadan“-Schilder werden als Angriff auf die Demokratie interpretiert. Jeder pflastert seinen eigenen Gerichtshof, um willkürlich sein enges Weltbild zu verteidigen. Die Wahrheit ist, es sterben Menschen. Menschen, die verzweifelt sind, die nie für Hamas gestimmt haben, die immer nach einem Ausweg, nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht haben. Menschen werden nach ihrem Aussehen als potenzielle Terroristen angefeindet.
Was waren noch einmal unsere westlichen Werte, hatten wir Diskussionen nicht schon vor fünfzig Jahren, was bringt uns dazu, den Schritt rückwärts zu gehen? Bleibt der Mensch trotz fortgeschrittener Bildung, trotz kosmopolitischer Lebensweise, trotz der schmerzvollen Lehren der Vergangenheit für immer das rohe Fleisch? Auf der anderen Seite gehen Tausende Student:innen, darunter Christen, Moslems und auch Juden, auf die Straße, rufen nach Frieden. Junge Menschen, die ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht aufgeben wollen. Diese Hoffnung, diese Aufrufe werden oft ins Lächerliche gezogen.
Als Autor habe ich bis heute in vielen Kirchen, Synagogen, Moscheen literarische Veranstaltungen
gehabt, habe versucht, mit Gedichten und Geschichten über unsere gemeinsamen Wunden, Enttäuschungen, Fantasien die Menschen zu erreichen. Auch wenn ich keine Schwäche für religiöse Motive pflege, ich habe auch an eine Welt geglaubt, in der wir Chanukka, Weihnachten und Ramadan zusammen feiern können. Aus einem Grund: Die jungen Menschen sollen befreit von dieser inneren Zerrissenheit, von Spaltungen, von Demagogie, von populistischen Parolen einen unbeschwerten Weg gehen können. Wann wird es möglich sein, wenn nicht jetzt?
Ausziehen des nassen Nachthemdes
Meine Oma Hanife, die bis zu ihrem Tod jede Nacht von ihrer eigenen Flucht, von überfallenen Dörfern geträumt hat, schweißgebadet aufstand und mich aufweckte, damit ich ihr beim Ausziehen des klatschnassen Nachthemdes helfen konnte, war für mich ein Beweis, dass die alten Wunden immer bereit für eine neue Blutung sind. Wie du mir in Heppenheim mit deinem Blick erzählt hast, dass wir alle Kinder der gleichen Welt sind, bleibt mir, uns eine neue Einsamkeit. Aber das darf uns nicht davon ablenken, liebe Hava, die Hoffnung nicht aufzugeben. Du hattest die Größe, deine eigene Wunden nicht über den gegenwärtigen Schmerz zu hängen. Dafür bin ich dir dankbar. Ich bin allen dankbar, die die Bedeutung des Friedens, den Schutz der Kinder, Frauen und Männer nicht nur in ihren Grenzen sehen wollen. Ich bin der Literatur dankbar, die seit Jahren meine Ecken und Kanten wie ein Schleifstein abrundet, die mir zu verstehen gibt, dass es trotz der Abgründe, trotz der kleinen Spiele eines Mephistopheles in unserem Inneren immer noch die Möglichkeit gibt, sich auf die Seite des Menschenlebens zu stellen. Ich bin der Natur dankbar, die mir immer wieder zeigt, dass die Steine auch ein Gedächtnis haben.
Liebe Hava, hier singt gerade Nina Simone ihre Balladen, in ihrer Stimme höre ich auch deine Stimme. Ich höre einen Widerspruch, einen Schrei, einen Wunsch, den Wunsch nach mehr Zärtlichkeit, nach mehr Liebe. Und ich schweige, in einer neuen Einsamkeit, in einem neuen Traum.
Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, ist ein deutscher Lyriker, Herausgeber und Verleger. Im Jahr 2012 gründete er den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Sein Roman „Unser Deutschlandmärchen“wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2024 erhält er den Else-Lasker-Schüler-Preis.
‘‘ Was ist das für ein Hass, Menschen, die für Frieden auf die Straße gehen, für beide Seiten ihre Solidarität bekunden, zu beleidigen?
„Ich bin Jüdin“, sagtest du, „ich weiß nicht, wohin mit mir“, sagtest du. „Dieses Verbrechen muss aufhören, sonst bleibt diese Last lebenslänglich.“Du hast für uns alle getrauert, für Juden, Moslems und Christen.