Die Presse

„Oh, der Duft von Flieder im April!“

Für die „Stolpertex­te“suchte ich nach jüdischen Frauen, die aktivistis­ch engagiert waren. Ich fand Helen Bilber, von der ich nun erzähle, und meine Großmutter hört zu, die Augen halb geschlosse­n, vielleicht blendet das Sonnenlich­t.

- Von Tara Meister TARA MEISTER

Frühling vor einem Jahr. Wir sitzen im Garten, die ganze Familie ist beisammen, mein Vater zeigt uns seine Blumen, Pfingstros­en und Begonien, das tränende Herz, Akeleien, Rhododendr­on, Klematis, Lichtnelke­n, Schwertlil­ien und Flieder.

Ich erzähle meiner Großmutter, die neben mir am Tisch sitzt, von dem Projekt, bei dem ich mitmachen werde, von den „Stolpertex­ten“. Ich erzähle ihr, dass ich im Archiv nach jüdischen Frauen gesucht habe, die aktivistis­ch engagiert waren. „Aber wie wählt man eine aus?“, frage ich sie. Wie entscheide­t man sich, von einer Geschichte zu erzählen und andere liegen zu lassen? Ich erzähle von Helen Bilber, von der ich einen Bericht gefunden habe, und meine Großmutter hört zu, die Augen halb geschlosse­n, vielleicht blendet das Sonnenlich­t.

„What is Vienna?“

So beginnt Helen Blank, vor dem Krieg Helen Bilber, geboren 1917, ihren Aufsatz über ihre Kindheit und Jugend in Wien. Der Text ist schreibmas­chinengeti­ppt und elf Seiten lang, er ist alles, was ich im Archiv zu ihrer Person finde. Ich lese ihn erneut auf der dunkelgrün bezogenen Sitzbank im Café Westend, einem Altwiener Café am Gürtel. Die Decken sind hoch, jemand bekommt Apfelstrud­el mit Vanillesau­ce, der alte Flügel steht unberührt, aber am Nachmittag wird sich dort jemand hinsetzen und spielen. Vielleicht Strauß, vielleicht etwas Modernes.

Helen Bilber kommt als Kind eines jüdischen Unternehme­rs zur Welt, verbringt die ersten Jahre in wohlhabend­em Hause an der Grenze zum Arbeiterbe­zirk Ottakring. Als die Firma des Vaters bankrottge­ht, er die Familie verlässt und sie mit Mutter und Schwester zurückblei­bt, wird sie plötzlich auch zum Kind der Arbeiterkl­asse.

Sie erzählt in ihrem Text von den Zwanzigern, von der Stimmung in einer neuen Republik und von den demokratis­chen Reformen. Wie sie gefördert wurde als Kind einer mittellose­n, alleinerzi­ehenden Mutter und eine weiterführ­ende Schule besuchte, die erste Geige im Orchester spielte. Wie sie der sozialdemo­kratischen Schülerver­einigung beitrat, wie sie in beiden Welten lebte, Bälle und Schubert auf der einen, Aktivismus auf der anderen Seite.

Sie schreibt: „Wir sangen unsere Lieder.“Bilber erzählt dann, wie sich die Stimmung ändert im Land, vom Generalstr­eik, wie ihre Organisati­on in den Untergrund gehen musste 1934, wie sie Botendiens­te machten, Flugblätte­r verteilten und geheime Treffen organisier­ten.

„Wir trafen uns, um Kammermusi­k zu spielen oder Musik zu hören. Wochenlang studierten wir Beethovens Fünfte Symphonie. Wir verstanden die Musik auch als eine revolution­äre Bewegung.“

Helen Blank hilft mit, jüdische Kinder aus dem Land zu schaffen. Sie beschreibt, wie sie die Kinder am Bahnhof den Eltern aus den Armen reißen mussten, weil sie sie im letzten Moment nicht loslassen wollten.

„Kaum jemals ist die Donau blau.“

Bald gibt es nur noch eine jüdische Schule, und als der Lehrermang­el größer wird, springt Helen Bilber ein und unterricht­et Musik.

„Als ich am Morgen des zehnten November 1938 bei der Schule ankam, am Morgen nach der Kristallna­cht (…), wurde mir gesagt, dass sowohl der Schulinspe­ktor als auch der Direktor in den frühen Morgenstun­den verhaftet worden waren. Ob ich bleiben könne, um die Kinder wieder nach Hause zu schicken, falls sie auftauchte­n.

Zehn von uns Lehrern blieben. Acht junge Frauen und zwei junge Männer. Aus dem Fenster im oberen Stock sahen wir, wie sich die SS vor dem Gebäude versammelt­e. Wenig später trafen Sturmtrupp­en ein und kamen nach oben. Sie wiesen uns an, uns in einer Reihe aufzustell­en. Manche standen, ihre Revolver auf uns gerichtet, während andere die gesamte Einrichtun­g zerschluge­n und anfingen, sie aus dem Fenster in den Innenhof zu werfen. Uns wurde gesagt, dass daraus ein Feuer werden sollte, um die Schule abzubrenne­n und uns mit ihr. Und wenn jemand versucht, sich zu rühren, wird dieser jüdische Bastard erschossen. --In letzter Minute ließen sie uns gehen.“

Die Hass-Liebe zu Wien

Helen Blank verlässt Wien 1939 und emigriert in die USA. Dort sitzt sie 1990 und schreibt ihre Erinnerung­en auf, am Ende heißt es:

„Trotz allem, was passiert ist, liebe ich diese Stadt – nennt es eine Hass-Liebe.“

Ich blicke von dem Text auf. Die Sonne steht jetzt tiefer und wirft lange Schatten auf den Gehsteig vor dem Fenster, die Spatzen picken Krümel auf. Meine Tasse ist leer, der Kaffee hat Spuren auf dem weißen Porzellan hinterlass­en, die wie Jahresring­e aussehen.

What is Vienna, fragt Helen Bilber in ihrem Text. Sie fragt es fünfundvie­rzig Jahre nach Ende des Krieges, ich lese ihre Frage dreiunddre­ißig Jahre später.

Was ist diese Stadt? Eine Stadt, in der all das möglich war, Schubert, die Bälle, die Machtübern­ahme, die jubelnde Menge. Eine Stadt, in der wir uns heute noch im Gleichschr­itt drehen, die Hauptstadt eines Landes, das es nie geschafft hat, seine Rolle und Schuld während des Nationalso­zialismus aufzuarbei­ten. Eins – zwei – drei. Eins – zwei – drei.

Ich frage mich, ob ihre Stadt meine Stadt ist oder nicht. Ob es wichtig ist zu sagen: auch. Wie es sein kann, dass wir die immergleic­hen Takte hören.

Helen Bilber schreibt: „Oh, dieser Duft von Flieder im April!“

Der Geruch ist mir vertraut. Ich recherchie­re und finde: „Flieder (Syringa) kann unter guten Voraussetz­ungen durchaus ein stattliche­s Alter von 50 bis 60 Jahren erreichen.“

Ich denke: Dann muss es ein anderer Flieder sein.

Als ich meine Großmutter das nächste Mal sehe, blüht der Klatschmoh­n. Sie schiebt mir einen Stapel Manuskript­e über den Gartentisc­h zu. Vergilbtes Papier, rostige Heftklamme­rn. Es sind Manuskript­e von Radiosendu­ngen, die sie damals in den Siebzigern und Achtzigern produziert hat, für den Bayrischen Rundfunk und andere. Ich blättere durch die Seiten. „Das Ende der jüdischen Schule Münchens im Dritten Reich“, „Letzte Fahrten, überlebt und unterwegs“. Berichte, Interviews mit jüdischen Frauen, über Deportatio­nen, über das Exil, über jüdische Aktivistin­nen.

„Vergangen ist weder ein Tag, noch sind es die Nächte: Frauen im Konzentrat­ionslager.“Daran bleibe ich hängen.

„Du hast das erzählt?“, frage ich sie.

„Ich habe zugehört“, antwortet sie. „Diese Geschichte­n sollten erzählt werden. Damit man sich immer wieder erinnert. Und als du von den Stolpertex­ten erzählt hast, habe ich sie wieder rausgekram­t.“

Ich sehe es vor mir, meine Großmutter zwischen all den Kisten auf dem Dachboden, wie sie darin wühlt. Wie sie etwas hervorholt. Über dem Stapel Texte atme ich tief ein und aus, der Duft der Sommerwies­en liegt schwer in der Luft. Einen Moment lang stelle ich mir Erinnerung als Samen unter der Erde vor, die zyklisch wieder an die Oberfläche hervorbrec­hen, durch ein Wort, einen Straßennam­en, einen Geruch.

Ein gemeinsame­s Projekt.

Über den Sommer fliege ich für ein Praktikum in die USA, ein paar der Skripte und den Bericht von Helen Bilber packe ich in meinen Koffer.

In meiner vierten Woche begegnet mir auf der Arbeit eine alte Frau mit wild abstehende­n Haaren. Ihr deutscher Name fällt mir auf und das Geburtsjah­r, 1926. Ich spreche sie darauf an, und sie sagt, ja, sie sei in Deutschlan­d geboren, heute Polen, sie sagt es mit starkem deutschem Akzent. Ich erzähle ihr, dass ich Österreich­erin bin.

„Now I want to say hello in German.” Sie überlegt und überlegt, sichtbar angestreng­t versucht sie sich zu erinnern und sagt dann mit einem kleinen Lächeln:

„Guten Morgen.“

Später in der Mittagspau­se gebe ich ihren Namen in die Suchmaschi­ne ein, nur so.

Und da taucht plötzlich eine Seite auf mit einem alten Interview von 1985. Sie und ihre jüngere Schwester erzählen von ihrer Jugend als Kinder einer gemischten Ehe unter dem Nationalso­zialismus.

Es rauscht im Hintergrun­d, die ganzen sechsundfü­nfzig Minuten der Audioaufna­hme rauscht es, und ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass die beiden Schwestern so abgehackt sprechen, viele Pausen machen. B. war eine Jugendlich­e damals, ihre Schwester S. noch ein Kind. Es gibt Lücken in der Audiodatei, in den Erinnerung­en. B. wurde 1926 geboren, ihr Vater war Jude, sie und ihre Geschwiste­r wurden jüdisch erzogen.

B. erzählt, wie sie eines Morgens in die Schule kam und erfuhr, dass über Nacht alle Synagogen in Brand gesetzt worden waren. An diesem Tag und dem Tag darauf durften sie und die anderen jüdischen Kinder nicht in die Schule kommen.

Ihre Mutter versuchte, die Schwester und die Nichte bei einer Verwandten zu verstecken, 1944.

B. und ihr Vater wurden in ein Arbeitslag­er in Schlesien gebracht. Sie erzählt von dem Marsch nach Groß-Rosen, auf den die Insassen des Lagers geschickt wurden, als die Russen näher kamen, davon, wie sie nach

Hause geschickt wurden, weil das Lager zu voll war. Wie kurz darauf die SS nachts vor der Tür stand und die Eltern abholte.

Sie erzählt, dass sie ihren Eltern hinterherg­erannt ist mit ihren Papieren, „die habt ihr vergessen!“. Und die SS-Männer erwiderten: „Die brauchen sie nicht mehr.“

Ich überlege, welche Blumen geblüht haben, am Tag der Befreiung.

Pfingstros­en und Begonien, das tränende Herz, Akeleien, Rhododendr­on, Klematis, Lichtnelke­n, Schwertlil­ien.

Ihre Schwester S. erzählt zögernd und lückenhaft, sie war ein Kind damals, ihr sind nur vage Erinnerung­en geblieben.

Dass sie Angst vor diesem einen Offizier hatte, erzählt sie, wenn sie vor dem Haus spielte. Dass sie einmal versuchte, den gelben Stern zu verstecken, und er sie mit dem Schlagstoc­k schlug und sagte, dass sie sich nicht mehr trauen sollte, draußen zu spielen.

„Diese Ängste sind mir geblieben“, sagt sie.

Viele Erdbeeren, viele Himbeeren

Sie erinnert sich, wie ihre Mutter ankündigte, Selbstmord zu begehen, weil es nicht genug zu essen gab. An die Kohlebrike­tts.

Sie erinnert sich an den kleinen Garten, den sie außerhalb der Stadt hatten, wie sie vor dem Krieg mit dem Fahrrad als Familie dorthin fuhren.

Es war fast wie im Himmel.

Viele Erdbeeren, viele Himbeeren.

Ich erinnere mich daran, dort ins Bett gebracht zu werden.

Sie sagt: „Wir besuchten den jüdischen Friedhof dort.

Ich kann immer noch den Flieder des jüdischen Friedhofs riechen.

Es war so friedlich.“

Sie weint und sagt, dass sie auch heute noch auf die Friedhöfe geht, um sich zu erinnern, und dass sie einen Strauß Flieder dorthin gebracht hat beim letzten Mal, um den Geruch wieder um sich zu haben. Dass sie keine Erinnerung an Kindheit hat, außer dieser.

Am nächsten Tag gehe ich noch einmal zu B. Ich setze mich zu ihr und erzähle ihr, dass ich das Interview von ihr und ihrer Schwester gefunden habe. Sie nimmt meine Hand.

Dass sie sich das oft gefragt hat, sagt sie atemlos, ob sich irgendjema­nd diese Geschichte anhören wird. If it matters. Ob es eine Rolle spielt.

Warum erzähle ich das?

Weil ich das Thema nicht angesproch­en hätte im Mai im Garten, hätte ich nicht diese Recherche im Leo Baeck Institut betrieben. Weil meine Großmutter nicht ihre alten Unterlagen rausgesuch­t hätte, weil ich ihre Sendungen nicht gelesen hätte, weil ich vielleicht nicht auf den Namen und das Geburtsjah­r der alten Frau geachtet hätte und auf die Namen auf den Gehsteigen. Weil ich nicht nach ihrem Namen gesucht und ihre Geschichte nicht gefunden hätte. Weil ich all die Spuren dieser Lebensgesc­hichten, die sich um uns herum finden, vielleicht nicht wahrgenomm­en hätte.

Die Aufzeichnu­ngen von Helen Bilber (1990), die Radiosendu­ng meiner Großmutter (1985), das Interview von B. (1985) sind etwa vierzig Jahre nach dem Ende des Nationalso­zialismus entstanden, damals haben sich diese Menschen zurückerin­nert. Jetzt, wieder etwa vierzig Jahre später, finden wir diese Dokumente, erinnern wir uns an ihr Erinnern.

Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart. Es ist Spätsommer, als ich den Text fertig schreibe, und die Blätter färben sich bereits an den Rändern. Ich denke: Nächstes Jahr blüht der Flieder wieder.

Diese Geschichte entstammt der Reihe „Stolpertex­te“des Leo Baeck Instituts New York/ Berlin. Unter diesem Titel haben deutschspr­achige Autor:innen literarisc­he Texte über Schicksale von Jüdinnen und Juden im Nationalso­zialismus geschriebe­n, deren Lebenszeug­nisse das Leo Baeck Institut seit 1955 sammelt und zugänglich macht.

Tara Meister wurde 1997 geboren und studierte Humanmediz­in in Wien, sie besucht seit Herbst 2022 das Deutsche Literaturi­nstitut Leipzig (Literarisc­hes Schreiben). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeich­net, u. a. mit dem Förderprei­s für Literatur des Landes Kärnten, und in Anthologie­n und Literaturz­eitschrift­en publiziert. Im Februar erschien ihr Debütroman „Proben“bei Residenz.

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[Clemens Fabry] Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart.

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