Asterix lebt jetzt im Slum
In die Pariser Vorstädte führt Anne Weber in ihrem Roman „Bannmeilen“– und damit in von Bettlern gesäumte Betonwüsten, bienenstockartige Wohnblöcke, auf Schmugglermärkte und in „Männerkneipen“. Eine Welt der Ausgrenzung ohne Perspektive und Vision.
Outside, jenseits der großen Autobahnen, türmen sich Müllberge. Wohin man schaut: Abraum und Tristesse. Dass jene Straßenzüge – von Danton bis Saint-Just – Namen einstiger Revolutionäre tragen, ist angesichts des beklemmenden Stillstands purer Hohn. Wo wir uns befinden? Ganz nah am Herzen Frankreichs. Zumindest in geografischer Hinsicht, in kultureller scheinen das Zentrum Paris und dessen Außenbezirke, die sogenannten Banlieues in der Périphérique, Welten zu trennen. Diese Erfahrung muss die Ich-Erzählerin des neuen Romans der ebenso in der Hauptstadt lebenden Anne Weber machen. Um einen Film über den Umbau der Quartiere für die Olympischen Spiele 2024 zu drehen, verschlägt es ihren Freund Thierry in die Gegenden, sie begleitet ihn kurzerhand. Entlang von bienenstockartigen Wohnblöcken für mehrere Tausend Einwohner, entlang von endlosen Betonwüsten, auf denen sich Bettlerhorden versammeln, entlang von Schmugglermärkten und „Männerkneipen“verdichtet sich dabei eine Soziografie des Abgehängtseins und Randständigen. Während sich manch andere Gegenwartsautor:innen an ferne utopische oder dystopische Inseln träumen, konfrontiert sich die 1964 geborene und aus Offenbach stammende Schriftstellerin mit der geballten, ungeschönten Realität.
In den „paar Krümel Leben, Überresten von Früherem“, bemerkt man jene soziale Verelendung, die stetig im Schatten einer sich ansonsten für ihren Nationenstolz feiernden Mehrheitsgesellschaft wächst. In der pittoresken Altstadt an der Seine mögen noch Jugendstil und Klassizismus das Auge blenden, hinter den Schnellstraßen prägen hingegen Drogengeschäfte und Hoffnungslosigkeit den Alltag der Menschen.
Sich in diese unwirtlichen Gefilde zu begeben ruft derweil einen Klassiker ins Gedächtnis, der als Hintergrundkulisse für Webers Road Novel angesehen werden kann: Dante Alighieris Monumentalwerk „Die Göttliche Komödie“(1320). „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald, da ich vom rechten Wege abgekommen“, schreibt er darin, begibt sich aus der Stadt hinunter ins Schattenreich. Das Inferno durchwandernd und den Läuterungsberg hinauf, nur mit dem einen Ziel, seine vergötterte Beatrice in Paradiso zu finden. Nun treibt Webers Protagonistin gewiss nicht eine unerfüllte Liebe in die „Slums der Pariser Vorstadt“. Gleichzeitig hat ihre Story einiges mit dem kanonischen Text gemein. Wenn die Erzählerin bemerkt: „Ich schaue mich um, es sieht aus wie in der Hölle“, so erinnern diese Zeilen unmittelbar an die Höllenkreise im Versepos. Im übertragenen Sinne spiegeln sie sich zudem in den unzähligen Verkehrskreisen im Roman, derweil ähnelt der Gefährte des gesalbten Dichters, der Schriftsteller Vergil, dem die Protagonistin begleitenden Filmemacher. Nicht zuletzt schließt „Bannmeilen“mit dem Besuch einer Kirche ab, die durchaus an Dantes Ankunft in den himmlischen Gefilden erinnern könnte. Nur bleibt bei Weber die Erlösung aus.
Nachdem sie selbst mehrfach betont, nicht zu wissen, was sie beide überhaupt zu dem Trip bewogen hat, kennt ihre Geschichte weder einen Anfang noch ein Ende. Stattdessen herrscht das die Lektüre belastende, aber die Ausweglosigkeit der Szenerie nachvollziehbarerweise tragende Prinzip der Wiederholung vor. Grau gleicht grau, und auch Begegnungen mit denselben Menschen werden zur Routine. Denn die Erzählerin und ihr Kompagnon steuern häufig die Bar eines Rachids an. „Sein Leben heute“, so der Besitzer des Szenetreffs, „besteht darin, den Verlorenen, Einsamen, den Siechen des Viertels einen Zufluchtsort zu bieten.“Ungleichheit gibt es auf dieser kleinen Insel nicht. Sie versteht sich als multikulturelle Behelfsheimat für einige Stunden, mitunter ebenso als Stammtischbude mit erwartbar politischem Geschwätz. Zwischen den dortigen Debatten über pro und contra Le Pen macht sich das Hauptsujet des Textes bemerkbar: die Reflexion eines tief in der Geschichte der Kulturnation verankerten Rassismus. Mehrfach bringt gerade Thierry die aus seiner Sicht fehlende Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich aufs Tapet.
Gemeinsam besuchen Webers Figuren Friedhöfe, auf denen Unabhängigkeitskämpfer begraben liegen, und problematisieren Straßennamen, die noch immer nach Militärs benannt sind, die die Emanzipationsbewegung in Nordafrika niederzuschlagen suchten. Stranden heute die zahlreichen Migranten aus dieser Region im Morast des Pariser Umlands, ohne Perspektive und Vision, so zeugt dieser Umstand von einer bedenklichen Fortdauer der immergleichen Ausgrenzungsmechanismen. Indem Weber darüber hinaus auch die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den deutschen Nazis anspricht, sägt sie gewaltig am Sockel des französischen Heroismus.
Auf diese Weise deckt sie, unterhalb der Oberfläche der monotonen Straßenwanderschaft, Folie um Folie der Vergangenheit auf. Allerlei Verdrängtes gerät ans Tageslicht. Genauso wie manche Kuriosität, die buchstäblich begraben lag. Zu Letzteren zählt mitunter, dass der Erfinder von Asterix, Albert Uderzo, unmittelbar in der Nähe einer früheren Galliersiedlung geboren wurde, auf der nun eine Baustelle emporragt. Bisweilen lassen sich sogar unverhofft bunte und vitale Orte entdecken. Wer würde schon hinter einer unscheinbaren, ehemaligen Industriefabrik einen farbenprächtigen Hindu-Tempel vermuten? Derlei Überraschungsmomente verdanken sich hauptsächlich dem sensiblen und offenen Blick der Protagonistin. Da sie sich vor allem im Zuhören übt, kommen jene zu Wort, die ansonsten nie gehört werden. Einmal wird gefragt, wo denn heute die großen Intellektuellen vom Schlag eines Victor Hugos seien. Mit „Les Misérables“hat Hugo 1862 den Unterdrückten und Mittellosen im Abseits der napoleonischen Glorie ein Gesicht gegeben. Nun tritt letztlich Weber in diese Traditionslinie. Vielleicht mit einer etwas zu konventionellen, rein linearen Erzählweise, dafür aber mit viel Empathie und einem unglaublichen Scharfsinn. Sie saugt Atmosphären auf, sammelt Spuren und verdichtet ihr Material zu komplexen Milieustudien. Gewahr werden wir damit einer imposanten Flaneuse neuen Schlages, die unbeirrt die Schaufenster der mondänen durch die Sackgassen der prekären Welt ersetzt hat.
Von Björn Hayer