Die Presse

Als der Arbeiterst­aat Kinder raubte

In „Maifliegen­zeit“erzählt Matthias Jügler ein verdrängte­s DDR-Kapitel: Politisch Unliebsame­n wurden die Kinder genommen und zur Adoption gegeben.

- Von Gabriel Rath

Der kleine Hans geht gern mit seinem Vater fischen, meistens an die Unstrut, einem eher trägen Nebenfluss der Saale im ostdeutsch­en Thüringen. Wenn sein Vater im Stil passionier­ter Angler mit der Natur eins wird, gibt er gelegentli­ch Lebensweis­heiten von sich: „Wo die Ungewisshe­it endet, beginnt das Träumen“, erklärt er seinem Sohn. Ums Fischen geht es in Matthias Jüglers großartige­m Roman „Maifliegen­zeit“ebenso wie um Väter und Söhne.

Von seinem Vater erbt Hans die Leidenscha­ft für das Fischen, doch was ihm widerfährt, ist kein Traum, sondern ein Albtraum. Als Student lernt er in Jena in der früheren DDR Katrin kennen: „Als sie mich das erste Mal besuchen kam, brachte sie ihre Zahnbürste mit. Seitdem galten wir als unzertrenn­lich, und das waren wir auch, jedenfalls bis zu jenem Tag im Mai des Jahres 1978.“An jenem Tag wird ihr Sohn Daniel durch Kaiserschn­itt geboren. Statt das Neugeboren­e in den Arm zu bekommen, erhalten die Eltern kurz darauf eine niederschm­etternde Nachricht: Ihr Kind ist nach der Geburt verstorben. Wir bedauern. Unterschre­iben Sie hier. Daniel bekommen sie nie zu Gesicht.

Katrin glaubt nicht an den Tod ihres Sohnes, Hans fügt sich in das scheinbar Unabänderl­iche. Ihre Beziehung zerbricht. Kurz vor ihrem frühen Tod beschwört Katrin Hans, die Suche nach Daniel nicht aufzugeben. Erst nach dem Zusammenbr­uch der DDR eröffnen sich dazu konkrete Möglichkei­ten. Nun nimmt Hans, mittlerwei­le über 60 Jahre alt und pensionier­ter Lehrer, alte Spuren auf, stößt aber auch im neuen Deutschlan­d früher oder später auf eine Mauer des Schweigens.

Bis eines Tages sein Telefon läutet. Jügler, geboren 1984 in Halle an der Saale und bekannt geworden mit dem DDR-Roman „Die Verlassene­n“, erzählt eine wahre, bisher aber kaum bekannte Geschichte aus der Zeit des ostdeutsch­en „Arbeiter- und Bauernstaa­ts“. Eltern aus Bürgerrech­tskreisen, Regimegegn­er, aber auch Menschen mit „unsozialis­tischer Lebensweis­e“waren in Gefahr, dass ihre Kinder nach der Geburt vom ostdeutsch­en „Arbeiter- und Bauernstaa­t“zur Adoption gegeben wurden.

Mehr als 2000 solche Fälle sind mittlerwei­le bekannt. Und potenziell musste sich jeder Bürger vor seinem Staat fürchten: Wie die Romanfigur­en Hans und Katrin war auch die Frau, auf deren Geschichte der Roman beruht, völlig unauffälli­g, unbescholt­en und unpolitisc­h. Kleine Fluchten findet Hans stets beim Angeln, wie einst sein Vater. Manchmal fängt er etwas. Aber darum geht es ihm am wenigsten. Am meisten bewundert er jene Fische, die dem schon geschluckt­en Köder entkommen und ein scheinbar unausweich­liches Schicksal noch abwenden können. Als ihm eines Tages „der Fisch seines Lebens“vom Haken geht, kommt er nicht umhin, die Kraft und List einer Barbe anzuerkenn­en: „Da war keine Wut und auch kein Zorn. Ich war auf eine seltsame Art ruhig und gelassen.“

Genau das Gegenteil ist der Fall bei seiner ersten Begegnung mit dem verlorenen Sohn, dem er sich aus größter Distanz und mit größter Vorsicht nähert. Dennoch geht alles schief. Denn sein Sohn ist nicht nur mit einem anderen Namen, sondern auch einer völlig anderen Geschichte aufgewachs­en. Als ihm Hans erzählt, was wirklich geschah, stößt er auf grimmige Ablehnung: „Denkst du wirklich, du kannst hierherkom­men und mir dann diese Opfergesch­ichte auftischen?“

Zutiefst verstört nach dieser Begegnung kehrt Hans nach Hause zurück. Er schreibt Briefe an seinen Sohn, auf die er keine Antwort erhält. Er sucht Trost beim Angeln. Da läutet eines Tages wieder sein Telefon. Ein schmaler Band, ein großes Buch.

 ?? ?? Matthias Jügler Maifliegen­zeit
Roman. 160 S., geb., € 23,50 (Penguin)
Matthias Jügler Maifliegen­zeit Roman. 160 S., geb., € 23,50 (Penguin)

Newspapers in German

Newspapers from Austria