Als der Arbeiterstaat Kinder raubte
In „Maifliegenzeit“erzählt Matthias Jügler ein verdrängtes DDR-Kapitel: Politisch Unliebsamen wurden die Kinder genommen und zur Adoption gegeben.
Der kleine Hans geht gern mit seinem Vater fischen, meistens an die Unstrut, einem eher trägen Nebenfluss der Saale im ostdeutschen Thüringen. Wenn sein Vater im Stil passionierter Angler mit der Natur eins wird, gibt er gelegentlich Lebensweisheiten von sich: „Wo die Ungewissheit endet, beginnt das Träumen“, erklärt er seinem Sohn. Ums Fischen geht es in Matthias Jüglers großartigem Roman „Maifliegenzeit“ebenso wie um Väter und Söhne.
Von seinem Vater erbt Hans die Leidenschaft für das Fischen, doch was ihm widerfährt, ist kein Traum, sondern ein Albtraum. Als Student lernt er in Jena in der früheren DDR Katrin kennen: „Als sie mich das erste Mal besuchen kam, brachte sie ihre Zahnbürste mit. Seitdem galten wir als unzertrennlich, und das waren wir auch, jedenfalls bis zu jenem Tag im Mai des Jahres 1978.“An jenem Tag wird ihr Sohn Daniel durch Kaiserschnitt geboren. Statt das Neugeborene in den Arm zu bekommen, erhalten die Eltern kurz darauf eine niederschmetternde Nachricht: Ihr Kind ist nach der Geburt verstorben. Wir bedauern. Unterschreiben Sie hier. Daniel bekommen sie nie zu Gesicht.
Katrin glaubt nicht an den Tod ihres Sohnes, Hans fügt sich in das scheinbar Unabänderliche. Ihre Beziehung zerbricht. Kurz vor ihrem frühen Tod beschwört Katrin Hans, die Suche nach Daniel nicht aufzugeben. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR eröffnen sich dazu konkrete Möglichkeiten. Nun nimmt Hans, mittlerweile über 60 Jahre alt und pensionierter Lehrer, alte Spuren auf, stößt aber auch im neuen Deutschland früher oder später auf eine Mauer des Schweigens.
Bis eines Tages sein Telefon läutet. Jügler, geboren 1984 in Halle an der Saale und bekannt geworden mit dem DDR-Roman „Die Verlassenen“, erzählt eine wahre, bisher aber kaum bekannte Geschichte aus der Zeit des ostdeutschen „Arbeiter- und Bauernstaats“. Eltern aus Bürgerrechtskreisen, Regimegegner, aber auch Menschen mit „unsozialistischer Lebensweise“waren in Gefahr, dass ihre Kinder nach der Geburt vom ostdeutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“zur Adoption gegeben wurden.
Mehr als 2000 solche Fälle sind mittlerweile bekannt. Und potenziell musste sich jeder Bürger vor seinem Staat fürchten: Wie die Romanfiguren Hans und Katrin war auch die Frau, auf deren Geschichte der Roman beruht, völlig unauffällig, unbescholten und unpolitisch. Kleine Fluchten findet Hans stets beim Angeln, wie einst sein Vater. Manchmal fängt er etwas. Aber darum geht es ihm am wenigsten. Am meisten bewundert er jene Fische, die dem schon geschluckten Köder entkommen und ein scheinbar unausweichliches Schicksal noch abwenden können. Als ihm eines Tages „der Fisch seines Lebens“vom Haken geht, kommt er nicht umhin, die Kraft und List einer Barbe anzuerkennen: „Da war keine Wut und auch kein Zorn. Ich war auf eine seltsame Art ruhig und gelassen.“
Genau das Gegenteil ist der Fall bei seiner ersten Begegnung mit dem verlorenen Sohn, dem er sich aus größter Distanz und mit größter Vorsicht nähert. Dennoch geht alles schief. Denn sein Sohn ist nicht nur mit einem anderen Namen, sondern auch einer völlig anderen Geschichte aufgewachsen. Als ihm Hans erzählt, was wirklich geschah, stößt er auf grimmige Ablehnung: „Denkst du wirklich, du kannst hierherkommen und mir dann diese Opfergeschichte auftischen?“
Zutiefst verstört nach dieser Begegnung kehrt Hans nach Hause zurück. Er schreibt Briefe an seinen Sohn, auf die er keine Antwort erhält. Er sucht Trost beim Angeln. Da läutet eines Tages wieder sein Telefon. Ein schmaler Band, ein großes Buch.