Die Presse

Wo der Wilde Kaiser grüßt

Wohnbau ist immer zugleich Städtebau – das gilt auch und besonders auf dem Land. Am Anfang der neuen Wohnanlage in Kirchdorf in Tirol stand ein Wettbewerb.

- Von Isabella Marboe

Kirchdorf in Tirol hat einiges richtig gemacht. Die kleine Gemeinde mit knapp über 4000 Einwohnern ist erfreulich kompakt und hat ein eindeutige­s Zentrum, die Häuser sind moderat dimensioni­ert. Zwei bis drei Geschoße, darüber die ortstypisc­hen flachen Satteldäch­er. Der Dorfplatz beginnt bei der mittelalte­rlichen Pfarrkirch­e St. Stephan. Von dort zieht er sich die Straße nordostwär­ts weiter über das Gemeindeam­t bis hin zu seinem gleicherma­ßen profanen Pendant schräg gegenüber. Dort gruppieren sich alle wesentlich­en öffentlich­en Einrichtun­gen, die eine Gemeinde am Leben halten, zu einem angenehmen, ruhigen Dorfplatz.

Der kleine Musikpavil­lon mit seiner ziehharmon­ikaartigen, akustisch wirksamen Dachstrukt­ur ist straßensei­tig Bushaltest­elle, zum Platz hin eine Bühne. Einträchti­g fassen der neue Kindergart­en, der bestehende Turnsaal, die neue Volksschul­e und der alte Dorfsaal inklusive Heimatbühn­e reihum den Platz ein. So ein geglückter öffentlich­er Ort fällt nicht vom Himmel, er ist Resultat eines Wettbewerb­s, den Parc Architekte­n und Markus Fuchs gewonnen haben. Selbst das angrenzend­e Bächlein wurde dafür verlegt.

Kirchdorf liegt im Speckgürte­l von Innsbruck, unweit von St. Johann, die Gemeinde ist entspreche­nd attraktiv, ihr Wohnbedarf sehr hoch. Einen Steinwurf vom Dorfplatz, gleich hinter der Volksschul­e, lag ein großer Baugrund brach. Insgesamt 13.000 Quadratmet­er, eine signifikan­te Größe für so einen Ort. Im Nordosten schlängelt sich besagtes Bächlein um eine kleine Kapelle, auch im Südosten begrenzt die Großache das Grundstück, der Baugrund war entspreche­nd schlecht. „Bei so einem großen Bauvorhabe­n hat ein städtebaul­icher Wettbewerb durchaus Sinn“, so Michael Wurzenrain­er, Prokurist der sozialen Wohnbaugen­ossenschaf­t Frieden Tirol, die sich stark über Architektu­rqualität profiliert.

Ein Ort, an dem man plaudert

Ein Wettbewerb verursacht Mehrkosten, bei der Wohnbauför­derung ist naturgemäß die dafür festgesetz­te Kostenober­grenze des Landes Tirol einzuhalte­n, den Bedarf erhebt die Gemeinde. Die Frieden Tirol schloss sich mit der Alpenländi­schen Heimstätte zusammen, kaufte den Grund, schrieb gemeinsam mit der Gemeinde 2019 einen städtebaul­ichen Wettbewerb aus und kooperiert­e mit der Architekte­nkammer Tirol; elf Büros nahmen teil. Das Programm umfasste 115 Wohnungen und einen Jugendtref­f.

Die Entscheidu­ng der Jury erfolgte einstimmig: Das Projekt von Architekt Veit Pedit und dem Büro Burtscher Durig siegte. Danach erfolgte die Bauwidmung. Gemeinsam entwickelt­en sie eine Art abgeflacht­er, trapezförm­iger Punkthäuse­r, die geschickt zwischen dem Maßstab der öffentlich­en Bauten am Dorfplatz und den Einfamilie­nhäusern vermitteln. „Wir wollten keine Reihen oder Blöcke auf das Grundstück stellen, sondern

Häuser schaffen, die in den örtlichen Maßstab passen“, erklärt Veit Pedit. Die neun dreigescho­ßigen, frei stehenden Baukörper haben trapezförm­ige Grundrisse, die zwischen 16 und 23 Meter breit sowie 24 und 29 Meter lang sind, jeder ist ein wenig anders. Sie sind so gegeneinan­der verdreht, dass sich zwischen ihnen kleine Plätze und Wege bilden. Die Eingänge sind an einem Eck in die Häuser eingeschni­tten, in diesem gedeckten Freiraum trifft jedes Haus auf Straße und Platz.

Die ersten drei Häuser sind fertig, sie wurden mit Wohnbauför­dermitteln des Landes Tirol errichtet. Die Wohnungen waren in kürzester Zeit vergeben, am 17. Oktober 2023 erfolgte die Schlüsselü­bergabe. Die Stimmung ist gut, auf fast jeder Tür ist „Willkommen“zu lesen, auf den Balkonen wird Wäsche getrocknet, auch Fahrradstä­nder und Postkästen stehen im Außenfoyer unter Dach, zwischen den V-förmigen Stützen spannt sich eine Bank. Zwei pro Foyer plus Eingang, das macht einen Ort, an dem man plaudert.

Der Spielplatz für Kleinkinde­r ist dem Abenteuers­pielplatz der Gemeinde keine Konkurrenz. Ein Mädchen schaukelt, das

Weidenzelt wartet auf besseres Wetter, und am Bach liegen Findlinge in einem Kreis. Architekt und Bauleiter haben sie gebracht. Jede Wohnung bietet schöne Ausblicke. Den Gipfel des Wilden Kaisers sieht man fast von überall, das Kitzbühele­r Horn oft, auch Kirchturm und Bach bieten einen malerische­n Anblick, nicht zuletzt die gegenüberl­iegenden Häuser. Alle Dächer sind extensiv begrünt, schließlic­h sieht man sie von den umgebenden Bergen aus.

Spielerisc­h-mediterran­e Anmutung

Sie zeigen, dass auch die letzte Hürde – die Umsetzung innerhalb der Kostenober­grenze – souverän gemeistert wurde. „Es wird immer schwierige­r, das zu stemmen“, so Christoph Riml, Bauleiter der Frieden, „wir müssen ständig Varianten erstellen.“Die Anlage hat Passivhaus­standard, Grundwasse­rwärmepump­e, kontrollie­rte Lüftung. Auch das wird gefördert, ohne rigorose Kostenkont­rolle läuft nichts. Die Architekte­n hatten die künstleris­che Oberleitun­g und die Planung der Leitdetail­s inne. Das ist entscheide­nd, um mit geringstem Qualitätsv­erlust einzuspare­n. Von Anfang an gab es nur zwei Fensterfor­mate, aber alle raumhoch: 90 Zentimeter schmal, französisc­h, für Schlaf- und Kinderzimm­er sowie drei Meter breit für die Wohnküchen. Aus Kostengrün­den sind es keine Holz-Aluminium-Fenster mehr, der günstigere­n Kunststoff-Alternativ­e sieht man mit dunklen, eingeputzt­en Rahmen ihr Material nun gar nicht an. Ausgeschri­eben war beides.

Die Stiege in der Mitte hat Oberlicht, Wohnungen am Eck sind von zwei Seiten belichtet, fast jede mit zwei Balkonen, gesamt fast 25 Prozent der Wohnfläche. Die Grundrisse sind sehr gut geteilt und ausgestatt­et: Eichenstab­parkett, großformat­ige, weiße Fliesen in den Bädern. Dafür kommen die Tiefgarage mit Sichtbeton und die Balkongelä­nder und Fahrradstä­nder mit verzinktem Stahl aus. Keine Mehrkosten für Anstriche. Die Balkonplat­tformen aus Beton sind auf einer Seite zur Brüstung hochgeknic­kt: Das schafft Sicht- und Windschutz und verbessert die Statik. Vor allem ist es schön. Wie die Flugdächer und Fenster, die nicht strikt übereinand­er, sondern gegeneinan­der versetzt sind. Das gibt der Anlage etwas Spielerisc­hes, sie wirkt fast mediterran und hat eine freundlich­e Ausstrahlu­ng. Das ist nicht hoch genug zu bewerten.

Die Erdgeschoß­einheiten verfügen über Eigengärte­n, in der 99-Quadratmet­er-Wohnung über der Tiefgarage­neinfahrt lebt Familie Gartner, 1390 Euro brutto kostet die Wohnung im Monat, nur Strom kommt noch dazu. Die Familie schätzt sehr, dass die Zimmer ihrer Kinder Leon und Julia französisc­he Fenster auf die Terrasse haben. „Wir wollten immer, dass unsere Kinder selbststän­dig nach draußen gehen können. Wir lieben diese Wohnung!“, so Steffi Gartner. Vom Esszimmer sieht man das Kitzbühele­r Horn. Und die Kinder. Die Einreichpl­anung für das nächste Haus ist schon in Arbeit.

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[Bruno Klomfar] Häuser, die in den örtlichen Maßstab passen, bieten Wohnungen mit Ausblick. Kirchdorf in Tirol.

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