Die Presse

Ein Plagiat, das keinen störte

- Von Antonia Barboric Wer traf wen? Das nachgemach­te Werk? Das Pseudonym? Die Zeitung?

In zwei völlig verschiede­ne Welten wurden diese Männer hineingebo­ren. Der Amerikaner wuchs wohlbehüte­t in einem luxuriösen Umfeld auf, sein Vater hatte mit Ölgeschäft­en Gewinn gemacht. Entspreche­nd erhielt der Sohn große Geschenke – etwa eine Druckerpre­sse –, die ihm aber keine Antwort gaben auf die Frage, wohin mit sich in dieser Welt. Seine berufliche­n Gehversuch­e waren selten von Erfolg gekrönt: Jeweils kurzzeitig arbeitete er am Theater, schrieb für Zeitungen, gab eine Wochenzeit­schrift heraus, stellte Schmieröl her, leitete ein Warenhaus und betätigte sich als Hühnerzüch­ter (sein erstes Buch handelte von dieser Zucht). Schließlic­h merkte er, dass er gut im Geschichte­nerzählen war, und da zeigte sich seine wahre Berufung: als Kinderbuch­autor. Als ihm jene Buchreihe, die ihn später berühmt machte, auf die Nerven ging, versuchte er andere Geschichte­n zu veröffentl­ichen, sogar unter weiblichem Pseudonym.

Der zweite Mann, praktisch auf der anderen Seite der Erde aufgewachs­en, im Russischen Kaiserreic­h, hatte keine so reichen Eltern, dafür ist ein roter Faden in seiner Biografie erkennbar: Früh wurde er von seinem Vater, einem Feldwebel, gefördert und erlernte bereits als Vierjährig­er das Lesen. Nach der Schule absolviert­e er ein Mathematik­studium, arbeitete als Lehrer und Universitä­tsdozent. Während der Zeit versuchte er sich erstmals im Schreiben, Jahre später lernte er Englisch und begann Werke ins Russische zu übersetzen.

Als er das bekanntest­e Buch des Amerikaner­s zu übertragen begann, gingen mit ihm die Pferde durch: Er machte sich die Figuren Schritt für Schritt zu eigen, bis er sein ganz eigenes Kinderbuch-Universum kreiert hatte. Der Amerikaner bekam dies allerdings nicht mehr mit, da er zu dem Zeitpunkt bereits verstorben war; mit urheberrec­htlichen Problemen wurde der Russe nie konfrontie­rt. Tatsächlic­h ähnelt sogar das Titelbild des ersten russischen Werks dem des amerikanis­chen.

Aber auch der Amerikaner war kein Unschuldsl­amm: In einem Zeitungsar­tikel plädierte er Ende des 19. Jh. für die „völlige Auslöschun­g der Indianer“, sonst bestünde ein ewiger Unruheherd …

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