Ein Plagiat, das keinen störte
In zwei völlig verschiedene Welten wurden diese Männer hineingeboren. Der Amerikaner wuchs wohlbehütet in einem luxuriösen Umfeld auf, sein Vater hatte mit Ölgeschäften Gewinn gemacht. Entsprechend erhielt der Sohn große Geschenke – etwa eine Druckerpresse –, die ihm aber keine Antwort gaben auf die Frage, wohin mit sich in dieser Welt. Seine beruflichen Gehversuche waren selten von Erfolg gekrönt: Jeweils kurzzeitig arbeitete er am Theater, schrieb für Zeitungen, gab eine Wochenzeitschrift heraus, stellte Schmieröl her, leitete ein Warenhaus und betätigte sich als Hühnerzüchter (sein erstes Buch handelte von dieser Zucht). Schließlich merkte er, dass er gut im Geschichtenerzählen war, und da zeigte sich seine wahre Berufung: als Kinderbuchautor. Als ihm jene Buchreihe, die ihn später berühmt machte, auf die Nerven ging, versuchte er andere Geschichten zu veröffentlichen, sogar unter weiblichem Pseudonym.
Der zweite Mann, praktisch auf der anderen Seite der Erde aufgewachsen, im Russischen Kaiserreich, hatte keine so reichen Eltern, dafür ist ein roter Faden in seiner Biografie erkennbar: Früh wurde er von seinem Vater, einem Feldwebel, gefördert und erlernte bereits als Vierjähriger das Lesen. Nach der Schule absolvierte er ein Mathematikstudium, arbeitete als Lehrer und Universitätsdozent. Während der Zeit versuchte er sich erstmals im Schreiben, Jahre später lernte er Englisch und begann Werke ins Russische zu übersetzen.
Als er das bekannteste Buch des Amerikaners zu übertragen begann, gingen mit ihm die Pferde durch: Er machte sich die Figuren Schritt für Schritt zu eigen, bis er sein ganz eigenes Kinderbuch-Universum kreiert hatte. Der Amerikaner bekam dies allerdings nicht mehr mit, da er zu dem Zeitpunkt bereits verstorben war; mit urheberrechtlichen Problemen wurde der Russe nie konfrontiert. Tatsächlich ähnelt sogar das Titelbild des ersten russischen Werks dem des amerikanischen.
Aber auch der Amerikaner war kein Unschuldslamm: In einem Zeitungsartikel plädierte er Ende des 19. Jh. für die „völlige Auslöschung der Indianer“, sonst bestünde ein ewiger Unruheherd …