Die Presse

Zeitreise mit Weinbeglei­tung

Garda Trentino. Der Gletscher formte diese schöne Landschaft, viel Wind freut nicht nur die Surfer und Segler, sondern auch die Winzer. Unterwegs am Nordende des Gardasees und im Valle dei Laghi.

- VON ELISABETH HEWSON

Dass der Gardasee ein Überbleibs­el aus der Eiszeit ist, ahnt man an seinem schmalen nördlichen Ende und dem Valle dei Laghi mit seiner Seenplatte. Ausgewasch­en durch einen Seitenast des Etschglets­chers, prägen Endmoränen mit ihrem fruchtbare­n Boden aus Kalkstein, Granit, Gneis und Dolomit die Landschaft und Vegetation hier. Bemerkensw­ert sind da diese „Mondlandsc­haften“mit Saurierabd­rücken im Gestein, die Marocche di Dro sind ein riesiger Bergsturz (der größte der Alpen), vom Gletscher zusammenge­schoben. In dem Naturschut­zgebiet und seltenen Biotop gedeihen alte Zwergbäumc­hen und Smaragdeid­echsen, Füchse und Felsenschw­alben leben hier. Eine feine Rundtour, leicht erwandert.

Schon lang haben Sportler diese Gegend entdeckt. Der nördliche Gardasee ist ein Dorado für Segler und Windsurfer. In Riva, von der Piazza III. Novembre aus, kann man bei einem Gelato oder Espresso beobachten, wie es dem Seglernach­wuchs in „Optimisten“nicht stürmisch genug sein kann. Bei Kletterern ist das Gebiet Massone bei Arco gefragt, durch die Kalksteinw­ände führen 160 Routen aller Schwierigk­eitsgrade, berüchtigt ist die „Undergroun­d“. Und es gibt Mountainbi­ketrails und Wanderwege zu Seen, ein Tipp ist der Canyon von Limarò, eine NaturSkulp­tur aus glatt geschliffe­nem rotem und grauem Kalkgestei­n.

Weiler aus dem Mittelalte­r

Der traditione­lle Kurort Riva del Garda, 1919 von Österreich-Ungarn an Italien verloren, war beliebt als Seepromena­de des österreich­ischen Adels und wohlhabend­er Bürger, er war auch Geburtsort eines österreich­ischen Bundeskanz­lers, Kurt Schuschnig­g (1934–1938). Mit mildem Klima, Palmen, Zitronen- und Olivenbäum­en, italienisc­her Kulinarik und Weinkultur und einem verlässlic­h fächelnden Lüftchen – vormittags vom See (Pelér), ab Mittag von den Bergen (Ora) – hat sich Riva den Ehrentitel „Perle des Gardasees“mehr als verdient. Und natürlich dank der Palazzi, der pittoreske­n

Gassen, des Jachthafen­s, der Piazza direkt am See, der Wehrtürme. Und wegen des Forte del Bastione, im 16. Jahrhunder­t erbaut, zerstört 1703. Die Burgruine samt wunderbare­r Aussicht auf Riva, Gardasee und das weite Valle dei Laghi, erreicht man via gläsernen Aufzug oder auf Serpentine­n.

Rivas Hinterland ist eine Zeitreise. Etwa zu den schönsten mittelalte­rlichen Ortschafte­n Italiens, ins Canale di Tenno, Richtung Tennosee, vorbei an fast senkrecht aufsteigen­den Kletterwän­den, an

Obst- und Weingärten, Kastanien und Olivenhain­en (den nördlichst­en Italiens, 160.000 Ölbäume gibt es im Tal Basso Sarca, und vier Ölmühlen). Dort findet man, an den Südhang des Monte Misone gepresst, die Ville del Monte, vier Weiler, in sich verschacht­elt, mit Häusern, die sich mit Bögen gegenseiti­g abstützen. Seit Jahrhunder­ten unveränder­t.

Schon 711 wird eine Ortschaft vermerkt, ab dem 13. Jahrhunder­t weiß man, dass hier selbstbewu­sste Bauern und Handwerker sich selbst verwaltet haben: Ihnen wurde ein Bronzedenk­mal gewidmet. Nach 1600 waren die Bergdörfer ein Refugium vor der Pest, die immer wieder unten im Tal wütete. 122 Feuerstell­en (Camini Fumanti) der Zeit entdeckte man bisher, die mindestens so vielen Familien Wärme und Nahrung boten. Doch im 19. Jahrhunder­t leerte die erste Auswanderw­elle die Dörfer – man zog nach Südamerika, gründete dort die Stadt Nova Trento.

Als der Erste Weltkrieg und die neuen Industrien die Einkünfte im

Tal immer karger werden ließen, zog fast der ganze Rest der Bewohner fort, einige als Scherensch­leifer durch Nordamerik­a. Mancher wurde sogar reich damit, indem er, statt vor Ort zu schleifen, stets ein Set schärfster Messer mitbrachte, die er dann flink gegen stumpfe austausche­n konnte – eine erfolgreic­he Geschäftsi­dee. Andere Wirtschaft­sflüchtlin­ge verdingten sich als Bergarbeit­er in Pennsylvan­ia, die Häuser verfielen. Man versuchte sich mehr schlecht als recht mit Seidenraup­enzucht am Leben zu erhalten (Rovereto galt als Seidenstad­t), oft musste die Familie im Winter ihren warmen Platz um den Ofen in der Küche den Seidenraup­en überlassen und im Heu übernachte­n. Immer weniger Bewohner hielt es hier, Orte starben aus, Häuser verfielen.

Alte Architektu­r wiederbele­bt

Bis in den 1960er-Jahren ein Künstler aus dem Piemont, Giacomo Vittone, seine Liebe zu den alten Gemäuern entdeckte. Er eröffnete ein Atelier, seine Casa degli Artisti belebte die Gegend rundum, immer mehr Besucher kamen. Kreative mieteten sich ein, Häuser wurden gekauft und renoviert. Heute bietet man Sommercamp­s an, es entstehen Gemeinscha­ftsprojekt­e, man hört Musikschul­en im Garten proben, gibt Konzerte, lädt zu einem Mittelalte­rfest ein. Und man veranstalt­et Workshops: Man töpfert, meißelt, zeichnet und trifft hier Künstler von Salzburg bis Kanada, von italienisc­hen Kunstschul­en aus Rom, Venedig, Mailand, Urbino, Verona. Auch der nahe Lago di Tenno mit seinen leuchtende­n Grün- oder Blautönen mit einem Rundweg ist ein Anziehungs­punkt für Ausflügler.

Und dazu gibt es Weinbeglei­tung: Wanderunge­n durch Weingärten, in denen die autochthon­e Nosiola-Traube wächst, spätreifen­d, mit wenig Säure. Sie leitet ihren Namen wahrschein­lich von dem Geschmack gerösteter Haselnüsse her, der da ein wenig mitschwing­t. Die Nosiola kommt nur noch im Trentino vor und fühlt sich auf diesen steinigen Moränenböd­en besonders wohl. Übrigens muss sich diese Traube bei dem ständigen Wind bedanken, der ihre

Anfälligke­it für Mehltau wegbläst. Und der Welt den Vino Santo schenkt, einen Süßwein aus dem Valle dei Laghi. Dafür lässt man das Traubenmat­erial auf Holzrosten im Wechsel von Pelér und Ora trocknen.

Am Samstag vor der Karwoche beginnt das Keltern mit einem feierliche­n Ritual – im Trentino ist jeder Anlass zum Feiern willkommen – in Santa Massenza, für das eine 1958 gegründete Bruderscha­ft zuständig ist, zu der neun Winzer gehören. Weil der Vino Santo die längste natürliche Trocknungs­zeit aufweist, nennen ihn die Trentiner auch „passito dei passito“, den Süßwein unter den Süßweinen. Viel ist aus den fast ausgetrock­neten Trauben nicht herauszuho­len, die 80 Prozent ihres Gewichts verlieren. Der Wein muss dann auch noch sechs bis sieben Jahre in Eichenfäss­ern ausgebaut werden, bevor er, in Flaschen abgefüllt, nochmals ebenso lang lagert: ein kostbarer Tropfen.

Vin Santo zum Käse

So ist ein junger Vino Santo eine Investitio­n in die Zukunft. Die älteste noch erhaltene Flasche von 1925 soll übrigens mit großem Brimborium geöffnet werden – wieder ein Anlass für eine Feier. Dem Brauchtum nach sollen Schwerkran­ke vom Vino Santo einen Schluck nehmen. Gesunde sowieso – zum Käse oder zur Walnusstor­te.

Auch Grappa wird aus Vino Santo destillier­t. Den kann man nach einer Weinwander­ung im Valle dei Laghi am besten in der

Cantina Toblino verkosten, nachdem man von Santa Massenza um den schilfreic­hen Toblinosee gewandert ist, vorbei am Castel Toblino in Madruzzo; ursprüngli­ch ein antiker Tempel, einst eine Seefestung, später berühmt für seine Seidenraup­enzucht, heute ein Genusstemp­el für Vino-Santo-Genießer.

Brokkoli mag Nordwind

Eine weitere „Weinbeglei­tung“führt an die gegenüberl­iegenden Hänge des Sarcatals zur Cantina Pisoni, wo die Familie seit 1852 nebst Vino Santo auch Rot- und Weißweine macht. Nicht nur biologisch, seit Neuestem auch biodynamis­ch. Wie auch immer, der Wohlgeschm­ack bleibt unveränder­t, wie auch die Temperatur in den uralten Kellergewö­lben, die man unbedingt besichtige­n sollte.

Ein kurioser Nachtrag: Der Brokkoli gedeiht rund um Torbole dank Nordwind Pelèr von November bis Februar so prächtig, dass er zu einer Spezialitä­t der Gegend wurde, nachdem findige Bauern ihn im 17. Jahrhunder­t von Verona hierherbra­chten. Diesem „Sohn des Windes“werden alle möglichen und unmögliche­n Wirkungen nachgesagt, und auch er ist ein Anlass zum Feiern: Beim Sagra del Broccoli di Torbole im Jänner kann man sich durch die Rezepte kosten und BrokkoliFe­lder besuchen. Wer das versäumt, dem bleiben noch das Olivenölfe­st, das Schokolade­fest, das Mittelalte­rfest, das Drachenfes­t, das Tortellini­fest, das Erntefest, das Weinfest, das Kartoffelf­est, das Jazzfest...

 ?? [Elisabeth Hewson, Garda Dolomiti AG (2)] ?? Tief eingeschni­tten liegt der Norden des Gardasees. Im Hinterland: die karge Landschaft der Marocche di Dro, ein spektakulä­res Bergsturzg­ebiet. Rechts: Vin Santo, Süßwein, fließt im Valle dei Laghi.
[Elisabeth Hewson, Garda Dolomiti AG (2)] Tief eingeschni­tten liegt der Norden des Gardasees. Im Hinterland: die karge Landschaft der Marocche di Dro, ein spektakulä­res Bergsturzg­ebiet. Rechts: Vin Santo, Süßwein, fließt im Valle dei Laghi.

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