Shakespeare füllt den ganzen Tag
In Stratford-upon-Avon erleben Theaterfans in Shakespeare-Kursen die Dramen des Barden auf der Bühne, diskutieren über die Inszenierungen und tauchen ganz ins Werk ein.
Am Vortag hat es gegossen wie aus Kübeln. Auch nach Theaterschluss schüttete es weiter. In der Nacht hat der Avon sein Bett verlassen und es sich auf den Uferwiesen bequem gemacht. Rund um die Holy Trinity Church, in der William Shakespeare und seine Familie ihre letzte Ruhe fanden, versinken Narzissen in Wasserlacken. Im Rathaus von Stratford-uponAvon bilden sich kleine Pfützen um abgestellte Schirme. Doch die Stimmung ist aufgeräumt.
Die eben angekommenen Teilnehmer der „Winter School“des Shakespeare Birthplace Trust versprühen Regentropfen und gute Laune. Der nächste Windstoß weht die junge Literaturwissenschaftlerin Jennifer Waghorn herein, die erst kürzlich über die Originalmusik von Shakespeares Theatertruppe promovierte. Sie leitet die Diskussion über die Aufführung von Shakespeares „A Midsummer Night’s Dream“am Vorabend. Schnell ist man sich einig: Die schwungvolle, schnelle Inszenierung hat die Magie der Komödie um die Verwicklungen mehrerer Paare am Vorabend der Hochzeit von Hippolyta und Theseus eingefangen, die Mischung aus modernen und traditionellen Elementen war gelungen.
Aber die Schauspieler sprächen die Verse nicht mehr so, wie man es früher von der Royal Shakespeare Company gewohnt war, wendet ein Jurist ein; das beobachte er seit Längerem. Er und seine Frau leben hier und sehen so viele Aufführungen wie möglich. Eine amerikanische Teilnehmerin bedauert, dass einige ihrer Lieblingsverse weggekürzt wurden. Doch besonders die Darstellungen des Puck und der jungen Athenerin Helena finden viel Anklang. Entsprechend groß ist die Freude, dass Boadicea Ricketts, die die Helena spielt, nach der Pause kommen wird, um von Proben, Inszenierung und ihrer Interpretation der Rolle zu berichten.
Kein intellektueller Feinstaub
Zuvor gibt es Tee, Kaffee, Kekse und verschärftes Fachsimpeln. Viele der Teilnehmer kennen einander von früheren Kursen. Vier bis fünf Mal im Jahr veranstaltet der Shakespeare Birthplace Trust, der die mit dem Leben William Shakespeares (1564– 1616) verbundenen Häuser in Stratford verwaltet und über sein Werk forscht, am Geburtsund Sterbeort des berühmtesten Dramatikers der Literaturgeschichte die drei- bis viertägigen „Leisure Courses“. Vorträge, Diskussionen und die Besuche der Bühnen der Royal Shakespeare Company strukturieren ihren Ablauf, aber auch für einen Besuch im Geburtshaus und Spaziergänge am Avon reicht die Zeit.
Dass sich zu keinem Zeitpunkt intellektueller Feinstaub im Raum bildet, liegt zum einen an der Lebhaftigkeit der Vorträge, zum anderen an der Nähe zur Praxis. Shakespeare schrieb nicht für Gelehrte, er schrieb fürs Theater, und die hochkarätigen
Referenten sind selbst vom Barden besessen und forschen entweder beim Birthplace Trust oder lehren als Shakespeare-Spezialisten an Universitäten mit Fachbereichen für frühneuenglische Literatur.
So hatte am Vortag bereits Paul Edmondson, Leiter der Abteilung Forschung und Wissenschaft des Birthplace Trust, Autor zahlreicher Bücher über den Barden und dazu auch noch Priester der Church of England, das Plenum für die Darstellung und Bedeutung von Träumen in der Literaturgeschichte sensibilisiert. Nebenbei beschrieb er die Welt, in die der Dichter am 23. April 1564 geboren wurde: Henry VIII. hatte mit Rom gebrochen, nach den Wirren erst unter seinem protestantischen Sohn Edward und dann der katholischen Tochter Mary sorgte nun Tochter Elizabeth I. für gemäßigt-protestantische Ruhe.
Latein auf dem Spielplatz
Shakespeares Vater, John, wurde als führendes Mitglied der Gemeinde 1569 beauftragt, das Weißen der religiösen Bilder in der Guild Chapel zu überwachen; mittlerweile hat man sie erstaunlich gut erhalten wieder freigelegt. Zugleich profitierte William von den neu geschaffenen Grammar Schools. Auch in Stratford gab es eine solche Schule, an der Knaben ab fünf Jahren kostenlos klassische Bildung erhielten; auch sie existiert bis heute. Latein war Umgangssprache; auch auf dem Spielplatz mussten die Zöglinge Lateinisch sprechen, im Klassenzimmer lasen sie die Literatur der Antike. „Danach brauchten sie kein Universitätsstudium mehr“, so Edmondson.
Am Tag nach jeder Aufführung beehren Darsteller das Seminar. In Latzhose und mit Baskenmütze nimmt nun Boadicea Ricketts auf der Bühne Platz. Doch sie ist nicht nur anders gewandet als am Vorabend, mit ihrer eigenen Londoner Stimme anstelle geschliffenen Bühnen-Englischs klingt sie plötzlich auch ganz anders. Nick Walton, für den Inhalt der Kurse zuständig und Mitentwickler der Shakespeare-Ausgabe von Trivial Pursuit, moderiert das Gespräch. Ricketts erzählt, wie sich ein Stück verändert, sobald nach den Proben Zuschauer im Theater sitzen, und dass sie die Rolle der von ihrem Freund geschmähten Helena als selbstbewusste Frau anlegt: „Ich sehe sie als ein Achtziger-Jahre-It-Girl aus Athen, mit einem coolen Bianca-Jagger-Stil.“
Einmal mehr ist so bewiesen, was in den Vorträgen immer wieder zu hören ist: Shakespeares ewiger Ruhm verdankt sich nicht nur seiner äußerst innovativen und komplexen Sprache und der Darstellung menschlichen Seins in allen Facetten. Seine Dramen und Komödien sind auch so durchlässig und elastisch, dass sich jede Generation aufs Neue in ihnen wiederfinden kann.
Draußen ist es unterdessen nicht nur Mittag, sondern auch fast dunkel geworden. Die Winter School findet statt, bevor das mittelenglische Städtchen seinen größten Zauber verströmt: vor den Blütenfluten des Frühsommers, wenn Wiesen und Blumentöpfe an Laternenmasten schier überquellen vor blühenden Blumen und die Fassaden der sonnenbeschienenen elisabethanischen Häuser von lilafarben leuchtenden Glyzinien bedeckt sind.
Dann kommen vor allem echte Überzeugungstäter und relativ viele Ruheständler. Trotzdem sind auch eine Handvoll Amerikaner dabei und eine Lehrerin aus Deutschland, die Stratford-upon-Avon zum Startpunkt ihres Sabbaticals erkoren hat. Unter den englischen Teilnehmern sind kulturliebende Paare aus allen Ecken der Insel, eine hohe Zahl an Englischlehrern, aber auch Leute wie Henry Meadows, Arzt im Ruhestand, der jedes Jahr an mindestens einem Kurs teilnimmt – aus lebenslanger
Begeisterung für das Theater und insbesondere die Werke des Barden. Insgesamt sind es so viele Shakespeare-Fans, dass das Seminar kurzfristig ins Rathaus verlegt wurde. Sein mit den Ölgemälden von Heroen aus Shakespeare-Dramen geschmückter Saal fasst bequem alle 62 Teilnehmer.
Selten gespieltes Stück
Der Rest des Tages ist der Vorbereitung des „Kaufmann von Venedig“gewidmet, eines im deutschen Sprachraum aufgrund der Ambivalenz des eigentlichen Helden, des Juden Shylock, selten gespielten Stücks. Heute Abend steht es im kleineren Theater The Swan auf dem Programm. Regisseurin Brigid Larmour hat ihre Version ins Jahr 1936 transportiert, als es auch in England eine faschistische Bewegung unter der Führung von Oswald Mosley gab (der während des Zweiten Weltkriegs sicherheitshalber eingesperrt wurde). Shylock wird von Tracy-Ann Oberman gespielt, deren russische Urgroßmutter 1905 als junges Mädchen vor Pogromen in Russland ins Londoner East End fliehen musste. Sie legt die Rolle als geprüfte jüdische Matriarchin an.
Professor Paul Prescott spricht über das „pretty problematic play“, das aufgrund des weiten Interpretationsspielraums von Shakespeares Werken von den Nazis propagandistisch eingesetzt wurde, was Shakespeare natürlich nicht ahnen konnte. Zwar liege es an der Inszenierung, ob das Stück Antisemitismus thematisiere oder antisemitisch gerate, doch Prescott attestiert ihm einen „elisabethanischen Mainstream-Antisemitismus“. In England gab es seit der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung unter Edward I. 1290 bis 1656 keine jüdische Gemeinde mehr. Wie Shakespeares eigene Truppe das 1595/96 entstandene Stück aufführte, ist aus keinen zeitgenössischen Berichten überliefert.
Im Duck beim Swan
Die Inszenierung des großen Regisseurs Trevor Nunn habe ihn 1999 fast überzeugt, dass der Kaufmann von Venedig okay sei, erzählt Prescott und entlässt das Plenum, auf dass es sich am Abend einen eigenen Eindruck verschaffen möge. Und so geschieht es. Ein Glas Wein und ein leichtes Mahl am Kaminfeuer des kuscheligen Pubs The Dirty Duck gegenüber vom Swan Theatre, der kleineren Bühne der Royal Shakespeare Company, und schon geht es los, mit Werbeplakaten der englischen Faschisten schon im Foyer und originalen Zeitungstiteln als Bühnenbilder.
Die Aufführung endet mit einer Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit, an der sich ihrer Relevanz zum Trotz anderntags die Geister scheiden. Schauspieler Gavin Fowler, der den Bassanio spielt, kommt dazu und erklärt, dass der Schluss sich derzeit noch täglich ändere — auch das sei für ihn ein Teil der unendlichen Faszination des Theaters. Dem mag niemand widersprechen.