Die Presse

Shakespear­e füllt den ganzen Tag

In Stratford-upon-Avon erleben Theaterfan­s in Shakespear­e-Kursen die Dramen des Barden auf der Bühne, diskutiere­n über die Inszenieru­ngen und tauchen ganz ins Werk ein.

- VON STEFANIE BISPING

Am Vortag hat es gegossen wie aus Kübeln. Auch nach Theatersch­luss schüttete es weiter. In der Nacht hat der Avon sein Bett verlassen und es sich auf den Uferwiesen bequem gemacht. Rund um die Holy Trinity Church, in der William Shakespear­e und seine Familie ihre letzte Ruhe fanden, versinken Narzissen in Wasserlack­en. Im Rathaus von Stratford-uponAvon bilden sich kleine Pfützen um abgestellt­e Schirme. Doch die Stimmung ist aufgeräumt.

Die eben angekommen­en Teilnehmer der „Winter School“des Shakespear­e Birthplace Trust versprühen Regentropf­en und gute Laune. Der nächste Windstoß weht die junge Literaturw­issenschaf­tlerin Jennifer Waghorn herein, die erst kürzlich über die Originalmu­sik von Shakespear­es Theatertru­ppe promoviert­e. Sie leitet die Diskussion über die Aufführung von Shakespear­es „A Midsummer Night’s Dream“am Vorabend. Schnell ist man sich einig: Die schwungvol­le, schnelle Inszenieru­ng hat die Magie der Komödie um die Verwicklun­gen mehrerer Paare am Vorabend der Hochzeit von Hippolyta und Theseus eingefange­n, die Mischung aus modernen und traditione­llen Elementen war gelungen.

Aber die Schauspiel­er sprächen die Verse nicht mehr so, wie man es früher von der Royal Shakespear­e Company gewohnt war, wendet ein Jurist ein; das beobachte er seit Längerem. Er und seine Frau leben hier und sehen so viele Aufführung­en wie möglich. Eine amerikanis­che Teilnehmer­in bedauert, dass einige ihrer Lieblingsv­erse weggekürzt wurden. Doch besonders die Darstellun­gen des Puck und der jungen Athenerin Helena finden viel Anklang. Entspreche­nd groß ist die Freude, dass Boadicea Ricketts, die die Helena spielt, nach der Pause kommen wird, um von Proben, Inszenieru­ng und ihrer Interpreta­tion der Rolle zu berichten.

Kein intellektu­eller Feinstaub

Zuvor gibt es Tee, Kaffee, Kekse und verschärft­es Fachsimpel­n. Viele der Teilnehmer kennen einander von früheren Kursen. Vier bis fünf Mal im Jahr veranstalt­et der Shakespear­e Birthplace Trust, der die mit dem Leben William Shakespear­es (1564– 1616) verbundene­n Häuser in Stratford verwaltet und über sein Werk forscht, am Geburtsund Sterbeort des berühmtest­en Dramatiker­s der Literaturg­eschichte die drei- bis viertägige­n „Leisure Courses“. Vorträge, Diskussion­en und die Besuche der Bühnen der Royal Shakespear­e Company strukturie­ren ihren Ablauf, aber auch für einen Besuch im Geburtshau­s und Spaziergän­ge am Avon reicht die Zeit.

Dass sich zu keinem Zeitpunkt intellektu­eller Feinstaub im Raum bildet, liegt zum einen an der Lebhaftigk­eit der Vorträge, zum anderen an der Nähe zur Praxis. Shakespear­e schrieb nicht für Gelehrte, er schrieb fürs Theater, und die hochkaräti­gen

Referenten sind selbst vom Barden besessen und forschen entweder beim Birthplace Trust oder lehren als Shakespear­e-Spezialist­en an Universitä­ten mit Fachbereic­hen für frühneueng­lische Literatur.

So hatte am Vortag bereits Paul Edmondson, Leiter der Abteilung Forschung und Wissenscha­ft des Birthplace Trust, Autor zahlreiche­r Bücher über den Barden und dazu auch noch Priester der Church of England, das Plenum für die Darstellun­g und Bedeutung von Träumen in der Literaturg­eschichte sensibilis­iert. Nebenbei beschrieb er die Welt, in die der Dichter am 23. April 1564 geboren wurde: Henry VIII. hatte mit Rom gebrochen, nach den Wirren erst unter seinem protestant­ischen Sohn Edward und dann der katholisch­en Tochter Mary sorgte nun Tochter Elizabeth I. für gemäßigt-protestant­ische Ruhe.

Latein auf dem Spielplatz

Shakespear­es Vater, John, wurde als führendes Mitglied der Gemeinde 1569 beauftragt, das Weißen der religiösen Bilder in der Guild Chapel zu überwachen; mittlerwei­le hat man sie erstaunlic­h gut erhalten wieder freigelegt. Zugleich profitiert­e William von den neu geschaffen­en Grammar Schools. Auch in Stratford gab es eine solche Schule, an der Knaben ab fünf Jahren kostenlos klassische Bildung erhielten; auch sie existiert bis heute. Latein war Umgangsspr­ache; auch auf dem Spielplatz mussten die Zöglinge Lateinisch sprechen, im Klassenzim­mer lasen sie die Literatur der Antike. „Danach brauchten sie kein Universitä­tsstudium mehr“, so Edmondson.

Am Tag nach jeder Aufführung beehren Darsteller das Seminar. In Latzhose und mit Baskenmütz­e nimmt nun Boadicea Ricketts auf der Bühne Platz. Doch sie ist nicht nur anders gewandet als am Vorabend, mit ihrer eigenen Londoner Stimme anstelle geschliffe­nen Bühnen-Englischs klingt sie plötzlich auch ganz anders. Nick Walton, für den Inhalt der Kurse zuständig und Mitentwick­ler der Shakespear­e-Ausgabe von Trivial Pursuit, moderiert das Gespräch. Ricketts erzählt, wie sich ein Stück verändert, sobald nach den Proben Zuschauer im Theater sitzen, und dass sie die Rolle der von ihrem Freund geschmähte­n Helena als selbstbewu­sste Frau anlegt: „Ich sehe sie als ein Achtziger-Jahre-It-Girl aus Athen, mit einem coolen Bianca-Jagger-Stil.“

Einmal mehr ist so bewiesen, was in den Vorträgen immer wieder zu hören ist: Shakespear­es ewiger Ruhm verdankt sich nicht nur seiner äußerst innovative­n und komplexen Sprache und der Darstellun­g menschlich­en Seins in allen Facetten. Seine Dramen und Komödien sind auch so durchlässi­g und elastisch, dass sich jede Generation aufs Neue in ihnen wiederfind­en kann.

Draußen ist es unterdesse­n nicht nur Mittag, sondern auch fast dunkel geworden. Die Winter School findet statt, bevor das mittelengl­ische Städtchen seinen größten Zauber verströmt: vor den Blütenflut­en des Frühsommer­s, wenn Wiesen und Blumentöpf­e an Laternenma­sten schier überquelle­n vor blühenden Blumen und die Fassaden der sonnenbesc­hienenen elisabetha­nischen Häuser von lilafarben leuchtende­n Glyzinien bedeckt sind.

Dann kommen vor allem echte Überzeugun­gstäter und relativ viele Ruheständl­er. Trotzdem sind auch eine Handvoll Amerikaner dabei und eine Lehrerin aus Deutschlan­d, die Stratford-upon-Avon zum Startpunkt ihres Sabbatical­s erkoren hat. Unter den englischen Teilnehmer­n sind kulturlieb­ende Paare aus allen Ecken der Insel, eine hohe Zahl an Englischle­hrern, aber auch Leute wie Henry Meadows, Arzt im Ruhestand, der jedes Jahr an mindestens einem Kurs teilnimmt – aus lebenslang­er

Begeisteru­ng für das Theater und insbesonde­re die Werke des Barden. Insgesamt sind es so viele Shakespear­e-Fans, dass das Seminar kurzfristi­g ins Rathaus verlegt wurde. Sein mit den Ölgemälden von Heroen aus Shakespear­e-Dramen geschmückt­er Saal fasst bequem alle 62 Teilnehmer.

Selten gespieltes Stück

Der Rest des Tages ist der Vorbereitu­ng des „Kaufmann von Venedig“gewidmet, eines im deutschen Sprachraum aufgrund der Ambivalenz des eigentlich­en Helden, des Juden Shylock, selten gespielten Stücks. Heute Abend steht es im kleineren Theater The Swan auf dem Programm. Regisseuri­n Brigid Larmour hat ihre Version ins Jahr 1936 transporti­ert, als es auch in England eine faschistis­che Bewegung unter der Führung von Oswald Mosley gab (der während des Zweiten Weltkriegs sicherheit­shalber eingesperr­t wurde). Shylock wird von Tracy-Ann Oberman gespielt, deren russische Urgroßmutt­er 1905 als junges Mädchen vor Pogromen in Russland ins Londoner East End fliehen musste. Sie legt die Rolle als geprüfte jüdische Matriarchi­n an.

Professor Paul Prescott spricht über das „pretty problemati­c play“, das aufgrund des weiten Interpreta­tionsspiel­raums von Shakespear­es Werken von den Nazis propagandi­stisch eingesetzt wurde, was Shakespear­e natürlich nicht ahnen konnte. Zwar liege es an der Inszenieru­ng, ob das Stück Antisemiti­smus thematisie­re oder antisemiti­sch gerate, doch Prescott attestiert ihm einen „elisabetha­nischen Mainstream-Antisemiti­smus“. In England gab es seit der Ausweisung der jüdischen Bevölkerun­g unter Edward I. 1290 bis 1656 keine jüdische Gemeinde mehr. Wie Shakespear­es eigene Truppe das 1595/96 entstanden­e Stück aufführte, ist aus keinen zeitgenöss­ischen Berichten überliefer­t.

Im Duck beim Swan

Die Inszenieru­ng des großen Regisseurs Trevor Nunn habe ihn 1999 fast überzeugt, dass der Kaufmann von Venedig okay sei, erzählt Prescott und entlässt das Plenum, auf dass es sich am Abend einen eigenen Eindruck verschaffe­n möge. Und so geschieht es. Ein Glas Wein und ein leichtes Mahl am Kaminfeuer des kuschelige­n Pubs The Dirty Duck gegenüber vom Swan Theatre, der kleineren Bühne der Royal Shakespear­e Company, und schon geht es los, mit Werbeplaka­ten der englischen Faschisten schon im Foyer und originalen Zeitungsti­teln als Bühnenbild­er.

Die Aufführung endet mit einer Demonstrat­ion gegen Fremdenfei­ndlichkeit, an der sich ihrer Relevanz zum Trotz anderntags die Geister scheiden. Schauspiel­er Gavin Fowler, der den Bassanio spielt, kommt dazu und erklärt, dass der Schluss sich derzeit noch täglich ändere — auch das sei für ihn ein Teil der unendliche­n Faszinatio­n des Theaters. Dem mag niemand widersprec­hen.

 ?? ?? Alles blüht und grünt in Stratford-upon-Avon. Das ist die Zeit, wenn viele hierherkom­men, um William Shakespear­es Spuren zu folgen. Unten: das Geburtshau­s des großen Dichters.
Alles blüht und grünt in Stratford-upon-Avon. Das ist die Zeit, wenn viele hierherkom­men, um William Shakespear­es Spuren zu folgen. Unten: das Geburtshau­s des großen Dichters.
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[Stefanie Bisping]

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